Europa im Krisenmodus

Im Wochenverlauf gab der EuroStoxx Index um über vier Prozent nach. In den USA passierte gar nichts. Eine solch starke Divergenz ist sehr ungewöhnlich. Erinnerungen an die Staatsschuldenkrise 2012 bis 2014 werden wach. Höchstwahrscheinlich leitet die Korrektur eine Phase der Underperformance in Europa ein. In den USA geht die Marktbreite im Sommerhandel weiter zurück. Den Spekulanten gehen die Spekulationsobjekte aus.

Wochenbericht 23/24 Stuttgart, 15. Jun. 2024

Während der europäischen Staatsschuldenkrise gelang es den Kapitalmärkten, mittels selektiver Verkäufe von Staatsanleihen der südeuropäischen Euro-Staaten (und Irland) die Eurozone massiv zu destabilisieren. Der deutsche Finanzminister hieß damals Wolfgang Schäuble, Mario Draghi war EZB-Präsident. Schäuble war der gewichtigste Opponent eines gemeinsamen Rettungspakets für die hochverschuldeten Mittelmeeranrainer. Die Kapitalmärkte forderten einen Default Griechenlands, Schäuble lieferte. Grexit war zeitweise ein geflügelter Begriff. Draghi beendete den Spuk mit seiner historischen Londoner Intervention.

Heute bilden die damaligen Krisenstaaten (mit der Ausnahme Italiens) einen Stabilitätsanker für die Gemeinschaftswährung. Nun stehen die hochverschuldeten G7-Staaten Italien und Frankreich im Fadenkreuz der Kapitalmärkte. Christian Lindner ist Finanzminuster in Deutschland und Christine Lagarde EZB-Präsidentin. Ob sich die Geschichte wiederholt? Angesichts der weiterhin nicht vollzogenen Integration der europäischen Kapitalmärkte bietet die erstarkte extreme Rechte in den Kernländern der EU diverse Angriffsflächen für einen Test der europäischen Solidarität. Die Krise Griechenlands ist mit eng mit dem Mißtrauen der Kapitalmärkte gegenüber der damaligen SYRIZA-Regierung verbunden. Eine RN-geführte Regierung in Frankreich stößt auf ähnliche Vorbehalte.

Die Folterwerkzeuge haben sich nicht verändert: Massive Verkäufe von Aktien und Anleihen, Abzug von Investmentkapital aus der Eurozone und selektive Wetten auf einen Default eines Kernstaats.

Im Wochenverlauf wurden die Messer gewätzt und die Werkzeuge präsentiert. Der Spread zwischen deutschen und französischen bzw. italienischen Staatsanleihen weitete sich massiv aus.

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Abbildung 1: Preisverläufe für Staatsanleihen aus Deutschland, Frankreich(magenta) und Italien(blau) vor und nach der EU-Wahl

Die Auflösung der Korrelation zwischen deutschen und anderen europäischen Staatsanleihen ist typisch für ein Krisenregime. Das Preisverhalten ist kein Vertrauenssignal an die deutsche Politik. Angesichts der akuten Instabilität in Frankreich ist ein sofortiger Bruch der Ampel-Koalition in Berlin aber ausgeschlossen. An eine mittelmäßige Verwaltung des Stillstands in Deutschland sind die Ökonomen gewöhnt.

Als Wahlnachlese empfiehlt sich die Ausgabe 293 des Chartbooks von Adam Tooze:

Germany after the European elections.

Eine schonungslose Bestandsaufnahme des politischen Systems mit dem Fokus auf die SPD.

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Abbildung 2: Preisverläufe der Aktienindizes USA (S&P 500, Kerzen), Deutschland (DAX, blau) und Frankreich (CAC, magenta) vor und nach der EU-Wahl

Folterinstrument Nummer zwei ist der Abzug von Investments. Aktienengagements können unkompliziert beendet werden. Die Abbildung 2 suggeriert, dass Anlagekapital aus Europa abgezogen und direkt in den USA reinvestiert wurde.
Die Abgaben verstärkten sich in der zweiten Wochenhälfte. Das ist ein deutlicher Hinweis auf die nicht-spekulative Natur des Prozesses. Möglicherweise räumen institutionelle Marktteilnehmer strategische Investments in der Eurozone und besonders in Frankreich.
Dort stehen insbesondere staatsnahe Aktiengesellschaften unter starkem Verkaufsdruck (Monatsperformance): Societe Generale (-19 %), BNP Paribas(-18 %), Credit Agricole(-17 %), AXA (-12 %), Saint Gobain (-13 %), Vinci (-16 %), Engie (-16 %), Bouygues (-16 %) …
Die Abgaben ziehen sich durch alle Branchen und sind teilweise dramatisch. Aber auch der italienische Markt wurde massiv verkauft. (30-Tage-Preisdifferenzen: DAX: -4,5 %, MIB: -7,5 %, CAC: -9 %). Ist das bereits der Beginn eines Tests der Schuldentragfähigkeit des Landes?

Politische Börsen haben meist kurze Beine. Wären die jüngsten Rückgaben europäischer Aktien und Anleihen durch heimische und internationale Investoren spekulativer Natur, könnte der europäische Kapitalmarkt spätestens nach dem Quartalsverfall für Derivate in der kommenden Woche wieder zur Tagesordnung zurückkehren.

Hinter den Rückgaben stehen aber (berechtigte) Zweifel um die Handlungsfähigkeit von Deutschland und Frankreich. In Frankreich ist die Regierung primär für Verwaltung und Innenpolitik zuständig, benötigt aber den Präsidenten für grundlegende Weichenstellungen. Höchstwahrscheinlich werden sich Regierung und Präsident bis zu den Präsidentschaftswahlen 2027 gegenseitig neutralisieren. Dem Land steht eine Phase der Lethargie bevor.

Die heimische Ampel-Koalition wurde faktisch abgewählt und hat keine Legitimation mehr. Es ist symptomatisch, dass die machtlosen, zerstrittenen und erschöpften Koalitionäre nicht einmal die Kraft haben, sich der Realität im Land zu stellen. Die sauberste Lösung, vorgezogene Bundestagswahlen zusammen mit den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen oder Brandenburg abzuhalten, wird nicht einmal ernsthaft diskutiert. Dies würde Europa sehr bewegende Sommermonate bescheren, aber den Weg für einen Neustart im Herbst bereiten. Hieronymus speku­liert, dass die Finanzmärkte der Politik in den kommenden Wochen genau diese Entscheidung abverlangen werden. Starke Preisausschläge zur Unterseite dürften uns erhalten bleiben.

Die Phase starker, politisch motivierter Mittelabflüsse könnte bereits in der nächsten Woche auslaufen. Investoren schauen nun aber sehr genau auf die Rahmenbedingungen bestehender Investments. Selektive Folge­mittel­abflüsse stehen einer nachhaltigen Erholung der Marktpreise insgesamt entgegen. Es fällt schwer, ein Szenario für substanzielle Mittelzuflüsse nach Europa bis in den Herbst zu entwickeln. Steigende Marktpreise und ein fester Euro sind in den Sommermonaten bzw. bis zur US-Wahl nicht wahrscheinlich.

Stabilisierend wirkt die weiterhin intakte Weltkonjunktur, insbesondere der transatlantische Handel. Dieser wird allerdings durch nationalistische Kräfte sowohl in den USA (Trump ist der Archetypus eines Isolationisten) als auch in Europa (RN + AFD sind russophil) in Frage gestellt. Das schwächt die Korrelation zwischen den Kapitalmärkten und bietet Hedge-Funds mannigfache Gelegenheiten, auf weitere Divergenzen zu spekulieren.

USA: Gepflegter Sommerhandel

In der Abb. 2 ist die Preisentwicklung des S&P 500 enthalten. In der Summe trat der Index auf der Stelle. Die im letzten Wochenbericht erwähnte Divergenz zwischen den hochkapitalisierten Werten und den Small-Caps setzte sich ebenfalls fort.

Am Donnerstag rollte bereits die Verkaufswelle in Europa. Der EuroStoxx verbilligte sich um fast zwei Prozent. In den USA setzte sich die Spekulation bei den bekannten Meme-Stocks fort (Gamestop, AMC), außerdem waren die Technologietitel weiterhin gesucht. Die Marktbreite nimmt weiter ab.

Auf LinkedIn wird inzwischen offen für eine Spekulation gegen Nvidia geworben. Die Short-Quoten in diesem Titel sollen sich nach dem Aktiensplit massiv erhöht haben. Hoch im Kurs steht eine Spekulation auf das Weihnachtsgeschäft bei Apple. Die Firma verspricht US-Kunden ab dem Herbst neue AI-enhanced-Smartphones. Es ist zwar völlig ungeklärt, wie der Datenschutz bei den hybriden AI-Diensten gewährleistet wird. Aber das ist halt das Wesen einer Spekulation.

Opportunitäten für Stillhalter

Der Abverkauf bei französischen Blue-Chips bietet selektiv ein gutes Chance-Risiko-Verhältnis für Stillhalterpositionen. Besonders gefällt uns die AXA.

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Abbildung 3: Preisverlauf der Axa

Das hohe Volumen (78 Mio.Aktien im Wochenverlauf) korrespondiert mit ähnlichen Ausverkaufssituationen in der Vergangenheit. Auf Sicht von zwei Monaten stabilisierte sich der Titel jedesmal.