Zinswende und AI-Ende

Wer erinnert sich noch an die Internetsuche vor 2022, an die Zeit, als einzig Siri und Alexa rudimentär mit uns kommunizierten? ChatGPT hat vieles verändert und frischen Wind in viele digitale Geschäftsprozesse gebracht. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Finanzmärkte diese Entwicklung spekulativ begleiten.
Das Platzen dieser Spekulationsblase ist genauso integraler Teil des Prozesses. Das AI-Segment ist – vom Kapitalmarkt unbemerkt – von einer stürmischen, revolutionären Entwicklung bereits in die evolutionäre Phase übergegangen. Es besteht viel Korrekturpotenzial, falls im Zuge einer Zinswende in Europa und den USA plötzlich zinssensitive Titel interessant werden.

Wochenbericht 27/24 Stuttgart, 13. Jul. 2024

Regimewechsel in den USA

Am Donnerstag wurden in den USA turnusgemäß Inflationsdaten veröffentlicht. Die Kerninflation sank auf 3,3 Prozent, 0,1 Prozent weniger als die Konsensprognose. Das genügte um die Kapitalmärkte kräftig durchzuschütteln.

  • Die Erwartung einer Zinssenkung im September stieg auf 88 Prozent
  • Renditen an den Rentenmärkten sanken deutlich
  • Der US-Dollar wertet ab (gegenüber dem Euro von 1,08 auf 1.09)
  • Kapitalintensive Branchen prosperierten am Aktienmarkt
  • Multinationale Technologieunternehmen und Unternehmen mit hohen Cash-Beständen wurden verkauft

Prägnant ist die vollzogene Bodenbildung für Marktpreise von US-Staatsanleihen

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Abbildung 1: Preisverlauf für US-Staatsanleihen mit 2 Jahren Laufzeit(Future).

Der Chart ist aus technischer Perspektive nun »sauber«: Das Abwärtsgap vom 10. April wurde zwei Monate später geschlossen. Zusätzlich wurde ein tragfähiger Doppelboden ausgebildet (30. April und 29. Mai).

Die Differenz zwischen der Rendite kurzlaufender US-Staatsanleihen und der Inflationsrate ist

  • Barometer für die Finanzierbarkeit des US-Staatshaushalts,
  • Ausdruck der Machtbalance zwischen Staat und Kapital und
  • Indikator für die Bereitstellung von Liquidität über fiskalische Maßnahmen.

Je höher die Differenz, desto mehr Steuergeld muss der Staat an seine Gläubiger zahlen. Das ist quasi das Pendant zum Bürgergeld für die Kapitalseite (zuletzt soll Berkshire Hathaway einen Großteil kurzlaufender Staatsanleihen erworben haben). Weiter sind Banken Großkunden der US-Treasury. Die so erworbenen Staatsanleihen bilden den Grundstock für die Geldschöpfung über die Kreditvergabe und stellen dem Wirtschaftssystem Liquidität bereit. Je geringer die Differenz zur Inflation, desto bessere Kreditkonditionen sind möglich; hier kommt die Geldpolitik der Notenbank ins Spiel. Der eigentliche Preisaushandlungsprozess vollzieht sich jedoch am Zweitmarkt. Dort ringen die unterschiedlichen Schulen der Finanzierbarkeit öffentlicher Ausgaben um die Deutungsmacht. Konkret: Welche Staatsverschuldung ist auf der einen Seite gerade noch tragbar und welche fiskalischen Maßnahmen sind für das anvisierte Wirtschaftswachstum notwendig. Das Pendel dieser Diskussion schlug zuletzt in Richtung der Monetaristen aus, die die Schuldentragfähigkeit der USA ernsthaft in Frage stellen und die Zinssätze für Staatsanleihen am Zweitmarkt in die Höhe trieben. Die Preisentwicklung der Staatsanleihen entkoppelte sich signifikant von der Entwicklung der Inflationsrate. Mit der charttechnischen Wende am Rentenmarkt könnte das Pendel nun wieder in Richtung der Fraktion der Modern Money Theory (MMT) ausschlagen. Danach ist ein Staat solange solvent, wie er sich bei seinen eigenen Bürgern verschulden kann. Japan zeigt der Welt seit drei Jahrzehnten, wie das funktioniert.

Letztlich ist die Trendwende am Rentenmarkt auch eine Homage an die Wirtschaftspolitik der Biden-Administration. Der Inflation-Reduction-Act setzt ungeachtet einer bereits historisch hohen Staatsverschuldung in den USA auf massive staatliche Investitionen in Zukunftsmärkte. Das zahlt sich nicht nur beim Vorsprung in der AI-Entwicklung aus.

Spekulativ könnte man annehmen, dass die Wende am Zinsmarkt eine Wette auf die Dynamik bei den Demokraten sei. Sollte es der Partei gelingen, »Opa« Biden durch eine/n dynamische/n Pragmatiker/in zu ersetzen, bekäme das Land eine echte Zukunftsperspektive. Niedrige Zinsen sind Vorschußlorbeeren hierfür.

Staffelwechsel

Ein bekanntes Konstruktionsdefizit von marktapitalisierungsgewichteten ETF’s ist deren Tendenz zur Kapitalkonzentration auf hochkapitalisierte Indexmitglieder. Die Fehlallokation steigt mit dem Grad passiven Anlagekapitals, dass in den fraglichen ETF’s geparkt ist. Der S&P 500 ist über diesen Mechanismus zuletzt zu einem S&P 5 geschrumpft. Fünf Titel dominieren den Index, 495 Werte sind insignifikant.

Gelder flossen trotzdem (oder gerade deshalb?) koninuierlich in diesen Index. Eine Interpretation ist, dass die Anleger im vollen Bewußtsein der Konzentration des Anlagekapitals auf wenige Mega-Werte Investments getätigt haben, weil die Indexschwergewichte keinerlei Zinssensitivität aufweisen. Die Unternehmen finanzieren ihre Investments aus dem Erlösen aus dem Tagesgeschäft. Hohe Marktrenditen wirken sich nicht auf die Fähigkeit zu strategischen Investments aus.

Rückblickend mieden Investoren andere Indizes, sowohl in Europa (trotz Zinssenkungspotenzial), Australien und auch den Russell 2000, in dem US-Midcaps enthalten sind.

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Abbildung 2: Preisverhalten des EuroStoxx (Kerzen), ASX (grau), Russell 2000 (blau) und S&P 500 (magenta) in den vergangenen drei Monaten

In der Abb. 2 ist der Regimewechsel in den USA sehr deutlich sichtbar. Die marktpreise für US-Midcaps explodierten seit Donnerstag. Plötzlich ist Zinssensitivität kein Risiko mehr, sondern ein Investmentargument. Ob dieser Staffelwechsel nachhaltig ist, wird sich zeigen. Im Sommerhandel kommt es in solchen Phasen gern zu Übertreibungen und auch Fehlsignalen.

Chimera

Besonders unter dem Zinsrisiko leiden Immobiliengesellschaften und Geschäftsmodelle, die nur in Verbindung mit hohen Verbindlichkeiten überhaupt funktionieren. Die Chimera gehört in diese Kategorie. Sie erwirbt Kreditpakete, restukturiert sie und veräußert die homogenen Tranchen mit einem Aufpreis an institutionelle Adressen. Kredite mit der schlechtesten Bonität verbleiben im Bestand der Gesellschaft. Die Chimera sichert sich zwar am Kapitalmarkt gegen Zins- und Preisrisiken ab, abnehmende Liquidität (wie 2020) und steigende Marktrenditen sind trotzdem toxisch für den Titel.

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Abbildung 3: Preisentwicklung der Chimera-Aktie

Der Titel ist dermaßen »ausgebombt«, dass alle positiven Veränderungen am Zinsumfeld in steigende Marktpreise münden. Die Dividendenrendite beträgt 15 Prozent. Zuletzt veröffentlichte das Unternehmen mehrfach Insiderkäufe der Führungskräfte. Am 22. Mai vollzog die Chimera zudem eine optische Verbesserung des Aktienpreises: Es wurde ein inverser Aktiensplit (3:1) durchgeführt.

AI / Nvidia – ein Abgesang

Nvidia, Open_AI und Microsoft sind das heilige Dreigestirn der AI-Scene. Nvidia baut primitiv-Quantencomputer, die zum Training von Large-Language-Modellen(LLM) taugen. Open-AI hat das KnowHow, die LLM’s zu programmieren, Microsoft Kapital und Marktmacht, diese in den Markt zu drücken.

Die Entwicklung der vergangenen drei Jahre gibt dem Trio Recht. Gemeinsam haben sie die Welt verändert. Kaum jemand, der regelmäßig digitale Dienste nutzt, kommt an den kostenlosen Diensten vorbei. Der Stromverbrauch der Branche explodiert förmlich. Die Unternehmen haben konsequenterweise ihre Aussagen zur eigenen Klimaneutralität kassiert. Wir leben in revolutionären Zeiten, lautet das Narrativ. Der Stromverbrauch ist eine Maßzahl zur Geschwindigkeit der Innovationen in der Branche.

Und dann das:

„inside the labs we have these capable models 
 and you know they’re not that far ahead from 
 what the public has access to for free“

Diese Aussage stammt von Mira Murati, CTO bei Open AI. Sie vergleicht die Fähigkeiten von GPT-3, (die derzeitige Open-Source-Version von ChatGPT) mit denen von Kindern, GPT-4 (integriert in die Suchmaschine Bing) erreicht das Abiturientenniveau und das geplante GPT-5 soll mindestens das Master-Level erreichen. Bis zur Einführung von ChaptGPt 5 vergehen laut Murati noch mindestens 18 Monate.

Diese Aussagen stehen im krassen Kontrast zu vollmundigen Ankündigungen von Sam Altman, dass die LLM’s spätestens in einem Jahrzehnt über eine eigenständige Intelligenz verfügen werden und dann über Selbstoptimation eine separate Evolution stattfinden wird (Artificial General Intelligence).

Da das Training von GPT4 bereits im August 2022(!) abgeschlossen wurde, braucht OpenAI aktuell fast vier Jahre für die Entwicklung einer neuen LLM-Generation. Michael Seemann versteigt sich in dem immer lesenswerten Krasse Links Blog zur Aussage, »KI ist ein Scam«. Ein Ausschnitt aus dem letzten Blogbeitrag:

Hier, was ich glaube, das passiert ist: 2018 oder so stolperte OpenAI über Googles Paper „Attention is all you need“ (das machte am Anfang keinen großen Splash, da ging es ja eigentlich um maschinelle Übersetzung) und sie stellten fest, dass das Ding mit immer mehr Daten in seinen Fähigkeiten skaliert. 2019 veröffentlichten sie GPT-2 und 2020 dann GPT-3 und provten ihren Case, aber ab da müssen sie bereits auf “deminishing Returns” gestoßen sein und meine These ist, dass sie die nächste Skalierungsstufe deswegen nur GPT-3.5, statt GPT-4 tauften und seitdem nach anderen Wegen der Optimierung suchen.

Die GPT-4-Specs sind bekanntlich geheim, aber laut hartnäckigen Gerüchten basiert GPT-4 bereits auf einem Trick, nämlich dem Mixture of Experts-Ansatz, wo bei Eingabe des Prompts entschieden wird, an welche speziell dafür optimierte “Experten-GPT” die Anfrage weitergeleitet wird.

Mit der Veröffentlichung von ChatGPT im November 2022 startete dann unerwartet der Goldrausch und im Überschwang ihres Selbstbewusstseins schoben sie GPT-4 im April 2023 gleich hinterher und vertrauten auf ihre nicht vorhandene Genialität, um das Plateau-Problem schon irgendwie zu beheben.

Und seitdem rudern sie. Ich glaube einer der versuchten Ansätze war tatsächlich die Multimodalität, die sie mit der Hoffnung verbanden, dass sich durch die Verknüpfung der sprachlichen mit den bildlichen Referenzen die Lücken im “World Model” der LLMs vervollständigen, aber ich bin mir mittlerweile sicher, dass die Idee des World Models – gleich neben ihrer Quatsch-Idee von der linearen Intelligenz-Hierarchie – eine der zentralen Denkfallen ist, in die sie getappt sind und nicht mehr rausfinden.

Klare Worte, die die aktuelle Risiko-Großwetterlage sehr prägnant auf den Punkt bringen.

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Abbildung 4: Preisentwicklung der Nvidia-Aktie und Handelsvolumen

Kehren wir zurück an die Finanzmärkte. Nvidia gehört zu den Big 5, die – weil sie förmlich im Geld schwimmen – den Großteil des Anlagekapitals in den S&P 500 absorbiert haben.

Der Nvidia-Chart zeigt eine deutlich erkennbar Divergenz zwischen Marktpreisentwicklung und Handelsvolumen. Die Marktpreise steigen zwar, es werden aber keine neuen Käuferschichten angezogen.

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Abbildung 5: Gewinn-Pro Aktie bei Nvidia, Konsensprognosen aktuell(blau) und vor einem Jahr (hellblau)

Um die hohen Marktpreise des Werts zu rechtfertigen, passen die Analysten ihre Prognosen an. Die Abb. 5 wirft ein Schlaglicht auf die inzwischen exorbitanten Erwartungen an den Titel. Bislang entwickelt sich der Wert besser, als von den Analysten prognostiziert (hellblauer Balken 2025 vs. Balken für 2024). Um die aktuelle Bewertung zu rechtfertigen, muss Nvidia ausgehend von der optimistischen Prognose für 2024 seine Erträge 2025 nochmals verdoppeln. Im aktuellen Geschäftsjahr wird Nvidia gemäß Konsenserwartung 120 Mrd. $ erlösen, doppelt so viel, wie 2023. In den folgenden vier Jahren sollen sich die Erlöse dann ein weiteres Mal verdoppeln, auf 245 Mrd. $ (pro Jahr).

Die gesamten Umsätze(!) des Halbleitermarktes betrugen 2023 gemäß der Unternehmensberatung Gartner 553 Mrd. $. Unter der Maßgabe, dass Nvidia eine operative Marge von 50 % erzielten kann (dass es also weiterhin keine ernsthaften Konkurrenten gibt) müsste allein Nvidia 2029 500 Mrd. $ umsetzen. Wie realistisch ist das unter der Maßgabe, dass die Entwicklung der LLM’s offenbar in eine evolutionäre Phase eingetreten ist? Zur Erinnerung: Nvidia-Kunden sind Rechenzentren, wo LLM’S trainiert werden.

Die Abb. 5 zeigt, dass die Kapitalmärkte bei Nvidia eine stürmische AI-Revolution bepreisen. Tatsächlich deutet sehr vieles auf eine AI-Evolution hin, mit deutlich weniger Dynamik. Es ist ferner nicht realistisch, dass Nvidia bis 2029 allein das AI-Marktsegment dominieren wird, noch ist es wahrscheinlich, dass das Wachstum des gesamten Halbleitersegments nun plötzlich exponentiell wird. Dafür müssten die neu erschlossenen Anwendungsbereiche revolutionäre Umbrüche in der Art und Weise der Nutzung digitaler Dienstleistungen mit sich bringen. Davon sind wir – stand heute – Lichtjahre entfernt.

Der eingangs beschriebene Regimewechsel in den USA stellt eine Gelegenheit dar, die Blasenentwicklung im AI-Segment zu korrigieren. Da die »betroffenen« Unternehmen groß und marktstark sind, zudem viel passives Kapital investiert ist, dürfte die Entwicklung im Zeitlupentempo ablaufen.

Über die Sommermonate erwartet Hieronymus in den USA eine Outperformance des Russell 2000 und im S&P 500 die Weitergabe der Staffel für Preisaufschläge an zinssensitive Titel.

Gänzlich zusammenbrechen würde die Spekulation um Nvidia falls es einem der vielen StartUp’s der Szene gelingt, einen Druchbruch mit einem echten Quantencomputer zu erzielen. Das wäre aus der Perspektive Hieronymus der tatsächliche revolutionäre Moment. Mit den LLM’s stehen Anwendungen bereit, die diese Revolution vorantreiben könnten. Dieses Element fehlte bis 2022.