Japanische Turbulenzen

Nach der spektakulären Ermordung palestinensischer Führungskräfte durch Israel schauten alle gebannt auf den Ölpreis. Statt dessen überzog ein Gewitterstrum aus Tokio die Finanzwelt. In Europa und den USA stehen die Zeichen auf sinkende Zinsen und eine Lockerung der Geldpolitik. Die Bank of Japan erhöht die Zinsen und strafft die Geldpolitik. Diese Divergenz schüttelte die Finanzmärkte kräftig durch. Die Wahr­scheinlichkeit ist groß, dass es sich hierbei nur um ein reinigendes Sommergewitter handelt.

Wochenbericht 30/24 Stuttgart, 03. Aug. 2024

Wer (wie der Author) »brat summer« ( Hieronymus-Wochenbericht 29) mit einer ruhigen, ausgelassen Periode assoziierte, wurde am Donnerstag eines Besseren belehrt.

nothing
Abbildung 1: Preisentwicklung beim EuroStoxx 50 (Kerzen) und Implizite Volatilität (1 Monat).

Quasi nachrichtenlos setze eine Verkaufswelle ein, die den europäischen Aktienindex zum Handelssschluß auf die untere Begrenzung der kurzfristigen Tradingrange führte. Am Freitag eröffnete der Index mit einem Gap. Mit dem Bruch der Marke von 4.800 setzte sich die Verkaufslavine fort.

Im Jahreschart ist der Trendbruch nicht zu übersehen.

nothing
Abbildung 2: Preisentwicklung beim EuroStoxx 50 (Kerzen) und Implizite Volatilität (1 Jahr).

Parallel zu den Preisrückgängen im Index stieg die Volatilität im VStoxx von 16 auf fast 25 Prozent. Im Jahreschart wird auch die Dramatik dieser Veränderung deutlich.

Im November 2023 erreichte die Volatilität letztmalig das aktuelle Niveau. Damals verharrte der Index nach dem Anstieg etwa zwei Wochen bei etwa 4.000 Euro. Es würde also nicht überraschen, wenn der Index bis September um die Marke von 4.600 pendelt und ggf. die Unterstützung bei 4.400 antestet.

Beim EuroStoxx (und den meisten anderen Aktienindizes) ist der übergeordnete Aufwärtstrend seit Februar 2020 trotz der aktuellen Preisschwäche vollkommen intakt. Kurzfristige Preissprünge sind im handelsschwachen Sommerhandel nicht ungewöhnlich.

Die am Freitag deutlich angesprungene Volatilität ist ein Maß für die aktuelle geforderte Risikoprämie. Diese spiegelt die saisonal bedingte höhere Entropie bei der Preisfindung. Die Preisbildung ist einfach erratischer, als in »normalen Zeiten«.

Sinkt die Volatilität, steigen im aktuellen Marktumfeld die Marktpreise.

Ein weiterer Volatilitätsanstieg wäre ein Hinweis auf »hidden Risks«, etwa eine Schieflage eines systemrelevanten Finanzunternehmens, eines großen Fonds oder ähnlichem. Hieronymus erinnert in diesem Zusammenhang an die »Long Term Capital Management«-Krise von 1998 oder die Schieflage der Deutschen Bank nach dem Default Russlands im Jahr 2002.

Japan beendet QE-Regime

Bereits am Mittwoch entschied die japanische Notenbank, den Leitzins anzuheben und den Aufkauf von Staatsanleihen zu halbieren. Erste Kommentare betonten die positiven Aspekte dieser Entwicklung. »Geld ist auch in Japan (wieder) etwas Wert«, hieß es. Wer sich etwas leiht, muss Zinsen zahlen, wer investiert, darf eine positive Rendite erwarten. Dies könnte in den USA geparktes Kapital japanischer Kleinanleger repatriieren, spekulierten einige, und den japanischen Aktienmarkt beflügeln.

nothing
Abbildung 3: Verlauf des Währungspaares USD/Yen (Kerzen) und Wertentwicklung des MSCI-Japan-ETF (in USD, 1 Jahr).

In den USA beträgt der Leitzins seit 2021 5,25 %, der Leitzins in Japan ist nun 0,25 %. Wegen der großen Zinsdifferenz wertete der Yen seit 2020 ab. Welchen Unterschied macht es, ob die Zinsdifferenz 5,5 oder 5,0 Prozent beträgt, könnte man jetzt fragen. Einen gewaltigen, wenn sich der Währungstrend umkehrt.

Seit dem 10. Juli wertete der Yen gegenüber dem US-Dollar um 10 Prozent auf.

Das Inzentiv für »Frau Watanabe«, ausländische Assets zu bevorzugen, war groß, verschwindet aber mit der Perspektive auf eine nachhaltige Yen-Aufwertung. Innerhalb weniger Tage egalisierte die Aufwertung des Yen die Jahresperformance für Auslandsanlagen. Nach dem Bekenntnis der BoJ, die Geldpolitik grundlegend zu ändern, ist es für »Frau Watanabe« folgerichtig, Auslandsanlagen aufzulösen.

Wie groß der Einfluß des Abzugs von Assets (US-Staatsanleihen + US-Aktien-ETF’s) war, kann nur vermutet werden. Einen Gutteil der Korrektur des US-Aktienmarktesi seit Anfang Juli kann aber in der aktuell handelsschwachen Marktphase dem Disinvestment japanischer Kleinanleger zugerechnet werden. Diese Mittel warten nun auf eine Neuanlage. Falls der japanische Aktienmarkt trotz eines aufwertenden Yen eine positive Performance zeigt, wäre dies der Neuallokation von Cash durch »Frau Watanabe« zuzuordnen.
Da der Nikkei ebenfalls einen lehrbuchartigen Trendbruch vollzogen hat, dürfte dieser Prozess verhalten und in Zeitlupe ablaufen.

Vom der dynamischen Aufwertung des Yen sind aber insbesondere Carry-Trades betroffen. Das sind Finanzierungs­instrumente mit der institutionelle Investoren sich in einer gering verzinsten Währung verschulden, die eingenommenen Mittel in eine Hochzinswährung tauschen, um dann mit den sicheren Zinserträgen Investments zu tätigen. Carry-Trades sind stark gehebelt. Eine dynamische Aufwertung der Verschuldungswährung ist der Worst Case für Carry-Trades. Wegen der großen Hebel müssen die – oft komplexen – Trades dann zwangsliquidiert werden. Das führt regelmäßig zu starken Preisveränderungen in anderen Assetklassen.

Die großen Preissprünge am Donnerstag und Freitag sind wesentlich der Neuorientierung der Geldpolitik der japanischen Notenbank geschuldet. Die dynamische Aufwertung des Yen erzwingt die Auflösung von Auslandsanlagen von japanischen Retailinvestoren und triggert die Liquidation von Carry-Trades.

Der starke Preisverfall in Tokio am Freitag deutet darauf hin, dass sich Hedge-Funds signifikant preiswert in Yen verschuldet haben und das Geld gleich in Japan investierten. Je weiter der Yen aufwertet, desto größer wird die Schuldenlast. Sinken dann die Marktpreise der auf Kredit erworbenen Assets müssen diese liquidiert werden.

Die starken Wertverluste in Europa und den USA deuten auf eine hohe Dynamik bei der Auflösung echter Carry-Trades hin.

Intel verliert ein Viertel seiner Marktkapitalisierung

Am Freitag berichtete selbst der Deutschlandfunk über Intel. Der Chiphersteller investiert schließlich fast 30 Milliarden Euro in eine Chipfabrik in Thüringen. Am Donnerstag veröffentlichte das Unternehmen Quartalszahlen und gab einen Ausblick auf das zweite Halbjahr.

  • Gewinn pro Aktie: 2 ct (Erwartung: 10 ct.)
  • Umsatz Q2: 12.9 Mrd. $ (Erwartung: 12,8 Mrd. $)
  • Prognose Q3: 12,3 Mrd. $ ( 1 Mrd.$ weniger als im Januar angestrebt)
  • Streichung der Dividende
  • Entlassung von 15.000 Mitarbeiter bis zum Jahresende

Nach der Veröffentlichung der Zahlen hagelte es Downgrades. Nur eine ausgewählte Minderheit von Analysten halten an einem »Buy« fest. Die Konsenzmeinung ist »Sell«.

nothing
Abbildung 4: Wertentwicklung der Intel-Aktie und Dividendenausschüttungen.

Der Aktienkurs ist seit Januar bis zum 1. August um 20 $ gesunken (von 50 $), am Freitag allein zusätzlich um ein weiters Viertel.

Fakt ist: Intel hat die Trends der letzten Jahre verschlafen und lebt von der Substanz. Zuletzt versuchte das Unternehmen mit einer Effizienzoffensive die Kostenstruktur von TMSC aus Taiwan zu erreichen und dessen Businessmodell zu kopieren. TMSC ist ein Auftragsproduzent, dessen Chips sind überall zu finden, sie tragen aber andere Markennamen. Allein: Dieses Geschäftsfeld produziert bei Intel im dritten Jahr in Folge Verluste. Ein Kunde war Huawai. Hier geriet Intel in den Strudel der Geopolitik. Der Export von Chips aus US-Fertigung nach China wurde vom Handelsministerium untersagt.

Bei Chips für den Einsatz in Rechenzentren stagniert der Absatz. Der Konkurrent AMD konnte den Absatz in dieser Sparte seit Jahresbeginn aber um 40 Prozent steigern. Bleiben Massenchips. Hier ist die Konkurrenz zu ARM, AMD, Samsung gnadenlos.

Die Hoffnungen des Managements ruhen auf dem »Panther Lake«-Prozessor, der 2025 verfügbar sein wird (und auch in Erfurt gefertigt werden soll).

Im Januar 2020 übertraf die Marktkapitalisierung von Intel die der Konkurrenten AMD und Nvida. Aktuell ist Intel 95 Mrd. $ wert. AMD und Nvidia haben eine Marktkapitalisierung von 2.600 Milliarden Dollar. Ob diese Bewertungskluft gerechtfertigt ist? Who knows. Auf dem aktuellen Preisniveau ist eine Stillhalterstrategie auf jeden Fall interessant. Es ist unwahrscheinlich, dass die Aktie unmittelbar weiter massiv verkauft wird.

Technologiegiganten investieren massiv in AI

In den letzten Wochen haben alle Technologiegiganten ihre Halbjahresergebnisse präsentiert. Gemeinsam ist ihnen ein Bekenntnis zu Investitionen in AI-Infrastruktur.

Allein Meta wird 2024 voraussichtlich 40 Mrd. $ in Rechenzentren versenken. Microsoft, Alphabet, Amazon und Meta haben zusammen im ersten Halbjahr 108 Mrd. $ ausgegeben. Im zweiten Halbjahr 2024 wird das Investitionsvolumen nochmals ausgeweitet.

In tech when you are going through transitions like this … the risk of underinvesting [in AI] is dramatically higher than overinvesting,” said Google chief executive Sundar Pichai.

Viele Investoren sehen das anders.

  • Trotz guter Q2-Zahlen sanken die Marktpreise für Amazon-Aktien am Freitag um 9 Prozent. Amazon investiert 2024 ein Viertel mehr in Infrastruktur als 2023.
  • Google holt gerade kräftig auf. Im letzten Quartal wurden fast 65 Mrd. $ in Infrastruktur investiert. Der Marktpreis sank von 194 auf 168 $. Anleger fragen, ob die Ausgaben für KI nicht die Werbeeinnahmen kannibalisieren.
  • _Microsoft hat sich wegen dem drastisch gestiegenen Energiebedarf von seinen Nachhaltigkeitszielen verabschiedet. Die die neuen Rechenzentren sind für eine Nutzungsdauer von 15 Jahren ausgelegt. Nach dem Ausrollen der ersten kommerziellen AI-Anwendungen kehrt Ernüchterung ein. Die Aktie ist von 470 auf 405 $ gesunken.
  • Apple und Meta gelingt es, die Investoren von der Sinnhaftigkeit der Investitionen zu überzeugen. Die Titel liegen trotz der aktuellen Preiskapriolen stabil im Markt.

Mark Zuckerberg prognostizierte für das Training der AI-Modelle der nächsten Generation einen um den Faktor 10 höheren Strombedarf. Er legt den Finger in die Wunde: Die kommenden Modelle werden bis zu 10 Milliarden Parameter benutzen, die parallel optimiert werden. Das ist eine Aufgabe für Quantenrechner. Die sind noch nicht verfügbar, also behilft man sich mit stromfressenden Nvidia-Recheneinheiten. Rational wäre es, wenn die Firmen kollektiv die Entwicklung der Quantenrechner vorantreiben würden …

Es gibt außerdem ein fundamentals Problem mit Language-Modellen, den derzeitigen Motoren der AI-Welt: Sie benötigen gigantische Mengen an Trainingsdaten. Diese werden üblicherweise aus dem Internet gezogen. Je mehr Parameter ein Languagemodell aufweist, desto mehr Trainingsdaten sind erforderlich.

Die Datenmenge des Internets ist begrenzt. Zum einen werden alle Modelle mit den gleichen Daten kalibriert. Zum zweiten vermischen sich originale Daten mit AI-generierten Inhalten und es kommt zu immer mehr Feedback-Loops. Das neue Modell zieht sich Inhalte, die ein Vorgängermodell generiert hat, die falsch oder richtig sein können. Im Ergebnis sind neue Modelle zwar leistungsfähiger, die Qualität der Antworten ist tendenziell geringer. Sehr wahrscheinlich verschlechtern die in immer größerer Anzahl existierenden AI-generierten Internetinhalte den Nutzen der neuen AI-Generationen.

Fazit: Die Dynamik bei AI-Anwendungen dürfte deutlich nachlassen. Das Enttäuschungspotenzial ist weiterhin groß, die Bewertungen der Technologiegiganten werden noch weiteren Tests unterzogen werden.