Liberation Day

Das mediale Echo auf die aktuelle US-Handelspolitik ist überwältigend. Alle Welt kennt inzwischen die Vokabel »Liberation Day«. Das Ereignis erfüllt alle Vorraussetzungen für die Ausprägung eines Preisextrems am Aktien- und Rentenmarkt.
Makrodaten in den USA zeigen rezessive Kräfte auf. Erste Kommentare stellen die Existenz eines »Trump-Put« in Frage. Ob ausgerechnet der »Liberation Day« genutzt wird, allen Unkenrufen zum Trotze eine Trendwende am US-Aktienmarkt zu orchestrieren?

Wochenbericht 13/25 Stuttgart, 29. Mar. 2025

Die Handelspolitik der USA ist Thema unglaublich vieler Veröffentlichungen. In starkem Kontrast hierzu stehen die Entwicklungen an den (europäischen) Finanzmärkten. Wie deutlich müssen die Vertreter der US-Administration eigentlich ihre Ablehnung europäischer Werte, Verfahren und Geschäftspraktiken artikulieren, ihre Absicht, bestehende Abhängigkeiten rücksichtslos zum eigenen Vorteil auszubeuten, bevor die Preise an den Aktienbörsen purzeln?

Die US-Aktienmärkte reagieren zunehmend nervös auf die US-Handelspolitik. Die US-Regierung muss nun zeigen, dass es NICHT ihr Ziel ist, heimische Unternehmen zu entwerten.

Der »Liberation Day« (2. April) soll es Richten. Die Ministerien haben sich bestehende Subventionen, Steuervorschriften, Zollsätze und sonstige handelsrelevante Regelungen der Handelspartner angeschaut. Bis zum 1. April soll hieraus ein Regelwerk zur Einführung reziproker Einfuhrzölle in die USA entstehen (kein Aprilscherz). Diese Zölle werden auf alle Waren erhoben und (z.B. bei Stahl, Aluminium und PKW’s) auf bestehende Strafzölle aufgeschlagen.

Das Ergebnis wären eine deutliche Adjustierung an den Währungsmärkten (Aufwertung des USD) und vermutlich branchenspezifische Preisabschläge am Aktienmarkt. Andererseits gehen die Marktteilnehmer außerhalb der USA entspannt mit Ankündigungen aus dem Weißen Haus um. Die Erfahrung hat gezeigt, dass nichts gewisser ist, als deutliche Anpassungen bei den verkündeten Maßnahmen. Die medial breit angekündigte Verkündung reziproker Zölle für alle Handelspartner könnte auch ein Nullevent werden.

An den übergeordneten Markttrends dürfte der »Liberation Day« nichts ändern. Das bedeutet weitere Preissenkungen in den USA und stabile Aktienmärkte in Europa und China.

Outperformance europäischer Aktien

Das Thema der vergangenen Ausgaben war «Entkopplung». Im Wochenbericht 11 argumentierte Hieronymus, dass die Phase der Outperformance Europas vorerst beendet sei. Die Korrelation der Aktienmärkte diesseits und jenseits des Atlantik würde sich wieder aufbauen. Die zentrale Aussage damals:

Da Europa sein Pulver nun verschossen hat, sind kurzfristig kaum Preispotenziale erkennbar.

In der letzten Woche schaute Hieronymus auf eine potenzielle Fehlentwicklung im Rahmen einer »Memefizierung« der Preisentwicklung bei Einzeltiteln. Dies könnte eine Trendwende ankündigen.

Tatsächlich treten die Notierungen in Europa seit einigen Wochen auf der Stelle. Die Outperformance gegenüber den USA hat sich jedoch fortgesetzt. Das wird bei einem Preisvergleich zwischen dem DAX und der Nasdaq deutlich.

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Abbildung 1: Performanceentwicklung von DAX (Linie) und Nasdaq (Kerzen)
  • Die Nasdaq hat einen veritablen Abwärtstrend ausgebildet. Seit dem 11. März korrigiert der Markt die Wertverluste des Vormonats. Mit dem Wochenschlußkurs auf dem bisherigen Preistief des Abwärtstrends ist die Korrektur im Grunde abgeschlossen. Weitere Abgaben triggern den nächsten Trendimpuls.
  • Seit dem 26. Februar korrigiert der DAX die Preisaufschläge seit dem Jahresbeginn. Auch diese Korrektur ist bisher trendbestätigend.

Blendet man die geopolitischen Störsignale aus und lässt allein die Charts sprechen, dann sollte sich die Outperformance Europas mit saisonalen Rückenwinden im April fortsetzen.

In dieses Horn bläst auch Katie Martin in der FT. In einem »Long View« (The great European disentanglement from US stocks has only just started) ordnet sie zunächst die aktuelle Preisentwicklung in den historischen Kontext ein: Nur in den Jahren 1960 und 2000 konnte der DAX den S&P 500 im ersten Quartal so deutlich outperformen wie 2025. Im Jahr 1960 setzte sich die Outperformance ab dem Sommer fort. Im Jahr 2000 kündigte die Outperformance das Ende des Dot.Com-Hype an. Bis zum Jahresschluß konnte der DAX den S&P 500 in den Jahren 1885 (40%), 2005 (25%), 2007 (18%) und 2012 (17%) outperformen.

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Abbildung 2: DAX - S&P-500 (in % 1960 – 2025), X-Achse: Tage seit dem Jahreswechsel (Quelle: FT)

In der überwiegenden Zahl der Jahre war es profitabler, sein Geld in die USA zu tragen. Aus einem Dollar, der im Jahr 2000 in US-Aktien investiert wurde, sind in 25 Jahren 3.28 $ geworden. Geldanlagen im Rest der Welt hätten daraus 1,63 $ gemacht. Die Konsequenz: Geld floss eindimensional in die USA. Ausländische Investoren halten inzwischen Netto 25 % aller US-Assets. (2008: Netto: 3%). Etwa die Hälfte der Auslandsposition bilden europäische Adressen: 9 Billionen USD. Das ist fast die Marktkapitalisierung der Assetklasse Aktien in Europa.

Frau Martin schließt daraus: »Was wir bisher an Outperformance der Aktienmärkte in Europa gesehen haben ist bestenfalls die Spitze des Eisbergs.« Selbst scheinbar breit aufgestellte Portfolios sind weiterhin massiv USA-lastig. Wer ein MSCI-World-Depot konstruiert hat, ist mit 65 bis 70 Prozent seines Kapitals in den USA investiert. Kapitalmärkte außerhalb der USA haben schlicht nicht die Kapazität, in den USA gebundene Mittel zu absorbieren, behaupten US-Vermögensverwalter. Europa arbeitet genau aus diesem Grund an einer Kapitalmarktreform.

Wann entsteht ein Handlungsbedarf für eine strategische Umschichtung? Die derzeitige Divergenz zwischen Europa und der USA ist sicher kein Reallokations-Grund. Möglicherweise werden zum Quartalswechsel erste Positionen angepasst. Die Reallokation wird noch mindestens das ganze Jahr anhalten.

Hat Frau Martin recht, dann steht uns eine Ausweitung der Divergenz im letzten Quartal ins Haus, vorausgesetzt und die unterschiedlichen Entwicklungspfade der Volkswirtschaften setzen sich fort.

Background Empfehlung

Der neue Westen (Podcast DLF)

Gehören die USA jetzt nicht mehr zum Westen?

Der Historiker Volker Depkat (Uni Regensburg) über die großen Linien der US Politik, das Besondere der regelbasierten, multinationalen Epoche 1950-1990 und die Rückkehr der USA in alte Muster seitdem. Ein ausführlicher, wichtiger Podcast.

https://www.deutschlandfunk.de/der-neue-westen-1-gehoeren-die-usa-jetzt-nicht-mehr-zum-westen-100.html

Selbst wenn die USA »nur« in die Muster des Isolationismus des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückkehren, ist die Voraussetzung für eine Fortsetzung der Outperformance der Aktienmärkte in Europa (und China) erfüllt. Da in den USA aber gerade auch die Macht des Präsidenten neu ausgehandelt wird, droht eine längere Phase politischer Instabilität und ökonomischer Unsicherheit.

Theoretisch könnte die US-Zivilgesellschaft den autoritären Tendenzen der Administration entgegentreten. In der Vergangenheit gelang dies niemals kurzfristig. Die Zerschlagung von Standard Oil gelang erst 21 Jahre nach der Formulierung des Sherman-Acts.

USA: Gilded Age II

Die derzeitige industriepolitische Entwicklung der USA kann mit der Renaissance der »Gilded Age« umschrieben werden. Diese folgte zeitlich auf die Gründerzeit und nutzte viele Entwicklungen und Erfindungen dieser Periode. Sie war durch Monopole (Robber Barons), Korruption und extremen sozialen Gegensätzen geprägt. Korruption ist in den USA inzwischen kein Strafbestand mehr und die gegenwärtigen »Robber Barons« sind entweder an der Regierung beteiligt oder Stammgäste im Mar a Lago. Die »Gilded Age« war aus der Sicht der Kapitalanlage wegen des ständigen Wechsels von Boom und Burst durch große Preisamplituden geprägt.

Sollten Kapitalanleger der Gegenwart zur Erkenntnis gelangen, dass sich die Kapitalmärkte an das Muster der Vergangenheit halten, dürfte ein Großteil des in den USA geparkten Risikokapitals repatriiert werden. Vermutlich werden dann Kapitalverkehrskontrollen implementiert (siehe Entkopplung). Dennoch sorgt allein der Entzug von Liquidität für eine nachhaltige Underperformance von US-Werten.

Europa: Gründerzeit II

Die Phase des Eisenbahnbaus wird auch als Gründerzeit bezeichnet. Es war auch die Phase der kommerziellen Nutzung der Dampfmaschine, die Industrialisierung der Stahl- und Zementproduktion.
Mit dem Rückzug der USA »auf ihre Scholle« hat Europa die Gelegenheit, an diese Tradition anzuknüpfen. Humankapital steht ausreichend bereit, die Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten sehen unisono unter massivem Erfolgsdruck und erstmals steht ausreichend Kapital zur Verfügung. Schließlich existiert mit dem »Green Industrial Act« auch ein strategischer Überbau.

Auch wenn der Vergleich aus naheliegenden Gründen überall hinkt: Die USA sind rückblickend seit 2016 in einer gesellschaftlichen Krise mit zunehmenden ökonomischen Unsicherheiten. Dies entzieht dem Kapitalmarkt langfristiges Kapital, egal wie innovativ der Standort sich kurzfristig darstellt. Daran würde auch ein rascher Zusammenbruch der aktuellen Administration nichts mehr ändern. Europa ist erwacht und strebt ebenso wie China eine nachhaltige Transformation an. Diese ist in Europa kooperativ ausgerichtet, in China hingegen autoritär. Diese Transformations­prozesse sind kapitalintensiv und eine wesentliche Triebkraft für Kapitalmarkttrends.

Stillhalter Positionen

Der US-Aktienmarkt weist aktuell ein interessantes Muster auf: Hochkapitalisierte Werte stehen deutlich unter Druck. Die erratische Handelspolitik setzt aber allen marktbreiten Indizes zu: sowohl bei den Small- und Midcaps (Russell 2000) als auch bei S&P 500 und Nasdaq steht eine Fortsetzung des Abwärtstrends auf der Agenda.

Binnenmarktorientierte Unternehmen mit lokalen Wertschöpfungsketten können sich dem allgemeinen Trend entziehen.

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Abbildung 3: Preisentwicklung des Getränkeherstellers Molson Coors

Molson Coors zum Beispiel. Der Wert ist kein Highflyer. Eine Korrelation mit dem Gesamtmarkt ist aktuell kaum gegeben. Der Konzern stellt Bier und Softdrinks her – ein krisensicheres Business! Pikant: Der Konzern ist eine kanadisch-us-amerikanische Erfolgsgeschichte. Da die Brauereien beidseitig der Staatsgrenze stehen, scheint der Zollkrieg vom Konzern abzuperlen. Der Konzern hat ein überschaubares globales Portfolio.

Zur Diversifizierung wurde eine Stillhalter-Position aufgebaut. Strategisch mögen die USA ein klarer »Sell« sein, kurzfristig bieten gerade günstig bewertete (Molson Coors: KGV: 11, KBV: 0,95) Titel der zweiten Reihe mit krisenfesten, lokal verankerten Geschäftsmodellen akzeptable Chance-Risiko-Verhältnisse für defensive Stillhalterpositionen.
Die Liquidität des Optionshandels ist allerdings mäßig. Andererseits gestattet die Position, mit einer hinterlegten Sicherheitsleistung von 3.000 $ innerhalb von 80 Tagen einen Ertrag von 350 $ einzunehmen.