Die Roboter sind da

Internetsuchmaschinen haben Lexika und Wörterbücher überflüssig gemacht und eine neue Klasse von Autoidakten hervorgebracht. Eine neue Generation verspricht, den Büroalltag umzukrempeln und macht Berater überflüssig. Im Zentrum dieses Umbruchs steht ein Unternehmen.
Die Credit Suisse hat ganz andere Probleme. In Scharen ziehen Kunden ihr Geld ab. Dort ist guter Rat teuer.

Stuttgart, 11. Februar 2023.

Im verflixten siebten Jahr nach dem Brexit wird auch gestandenen Brexitiers bewusst, welch ein katastrophaler Fehler es war, Europa den Rücken zu kehren. Die Debatte über einen möglichen Wiedereintritt nimmt an Fahrt auf. Die FT widmete dem Thema gerade einen Übersichtsbeitrag. Ein Versprechen der Brexit-Kampagne war, mit den eingesparten Geldern den staatlichen Gesundheitsdienst zu unterstützen. Dort ist der Finanzierungsnotstand inzwischen akut. Die Realität ist aber: Die britische Regierung schickt Geld und Waffen lieber in die Ukraine, anstatt Reformen im Inland durchzuführen. Seht her: Unser Chequebuch ist das Zünglein an der Waage für einen erfolgreichen Kriegsverlauf. Als Belohnung werden wir gemeinsam mit der Ukraine der EU beitreten und dann (wie früher) Brüssel wieder für die heimischen Missstände verantwortlich machen. Konservatismus in Reinstform!

Die Bots kommen

Am 30. November 2022 starte die Public-Beta-Version von ChatGPT. Ohne einen Cent für Marketing auszugegeben, überschritt die Nutzerzahl bereits nach wenigen Tagen die Millionengrenze. Aktuell nutzen 100 Millionen Nutzer ChatGPT aktiv. Es wären wohl viel mehr, wenn nicht ständig die Anzeige erscheinen würde “ChatGPT is in full capacity”. Abhilfe schafft das kostenpflichtige ChatGPT-Plus oder der neue Edge-Browser von Microsoft, der ChatGPT in der Version 4 integriert hat, die auch aktuelle Ereignisse kennt.

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Abbildung 1: Ausschnitt aus dem Titelbild des aktuellen Economisten

Die Medien überschlagen sich in der Bereitstellung von »Hintergrundartikeln«. Wie viele davon von ChatGPT redigiert wurden, ist nicht bekannt.

Dabei begleitet uns KI bereits seit Langem auf Schritt und Tritt. Wir haben uns an Rechtschreibkorrekturen, auf unsere Vorlieben abgestimmte Vorschläge beim Stöbern in Online-Geschäften und ungemein präzise Suchergebnisse beim »googeln« gewöhnt. Trotz Sicherheitsbedenken haben wir Sprachassistenten, wie Alexa und Siri in unsere Wohnzimmer gelassen und uns gefreut, wenn wir verstanden wurden. Eine Armada selbstlernender Systeme bevölkert die großen Cloud-Farmen, allzeit bereit, die übertragenen Aufgaben im Rahmen der zugewiesenen Speicherbänke zu erledigen.

ChatGPT ist der erste (halbwegs stabile) AI-Algorithmus, der die Semantik einer Sprache beherrscht und auf Augenhöhe mit uns kommuniziert.

Das die Zeit reif ist für ChatBots, zeigt ein Blick auf die Konkurrenz: Bei Google stehen Claudie und Bard in den Startlöchern, Baidu integriert Ernie im März in seine Suchalgorithmen. Fakt ist: Selbst wenn die Antworten von ChatGPT im Zuge des Beta-Tests schlechter werden sollten (wie es 2022 dem Galactica-Bot von Meta erging), verändert sich das Nutzerverhalten im Internet nachhaltig. Die Titelseite des aktuellen Economisten ist diesbezüglich treffend. (Kleine Randnotiz: Der Versuch, ChatGPT als Lektor für diese Ausgabe des Wochenberichts einzusetzen, scheiterte kläglich.)

Genug der Prosa. Was bedeutet dies für die Kapitalanlage?

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Abbildung 2: Preisverläufe von Alphabet und Microsoft im Vergleich

Die Kapitalmärkte sehen die Perspektiven von Google kritisch. Ein Blick auf die Kurstafeln zeigt: Im Jahresverlauf bildete sich eine Bewertungskluft von 25 Prozent heraus. Microsoft ist mit einer Marktkapitulation von 1,8 Billionen US-Dollar ein wahres Dickschiff; Google mit 1,1 Billionen Dollar nicht minder unbeweglich.

Wenn die Nutzer einen Chatbot anstelle einer Web-Suche benutzen, entfällt das lästige Durchklicken der Suchanzeigen. Die gefilterten Informationen werden direkt präsentiert. Bisher – sagt Google – sind 80 Prozent der Suchanfragen kommerziell uninteressant, die Suchmaschine lebt von 20 Prozent der Nutzer, die auf gesponserte Links klicken. Je besser die Chatbots werden, desto weniger Grund gibt es, Originalquellen anzuschauen. Wir werden deutlich weniger »Surven«. Das ist für die Vielzahl werbefinanzierter Angebote das Todesurteil, die Marketing-Industrie muss sich neu erfinden. Die Suche selbst wird aufwendiger und teurer. Jede ChatGPT-Abfrge kostet ca. 2 Cent, sieben Mal mehr als eine übliche Internetsuche. Chatbots schnappen sich einen Großteil der Margen der Suchmachinenbetreiber. Ein Grund mehr, die Textsuche der Gegenwart zu begraben und sich neuen Horizonten zuzuwenden.

Microsoft sticht bereits heute taktisch und strategische als großer Gewinner hervor. Die Integration der Chatbots in das Windows-Betriebssystem hat bereits begonnen. Der Vorteil der Verwendung in Excel und Teams ist so offensichtlich, dass bereits wieder die Gefahr der Zerschlagung wegen Marktdominanz droht. Das Unternehmen steht einmal mehr im Zentrum der Disruption und könnte wiederum größter Profiteur werden.

Angesichts dieser Perspektiven ist das Unternehmen derzeit mit einem KGV von 26 fair bewertet. Die aktuelle Bewertung entspricht der der Jahre 2016 bis 2019.

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Abbildung 3: Entwicklung der Bewertung der Microsoft anhand des KGV

Die einzigartige strategische Positionierung des Konzerns ist seine Achillesferse. Die Integration der Chatbots in das Windows-Betriebssystem zieht eine Fülle datenschutzrechtlicher Fragen nach sich. Da sich die Menschen ganz normal mit den Chatbots unterhalten, fließen hier Unmengen an privaten Daten ab, die zentral gespeichert werden. Auch dürfte es dem Konzern aus kartellrechtlichen Gründen immer schwerer fallen, extern zu wachsen, also interessante Unternehmen zu integrieren. Die vermutlich am Veto Großbritanniens scheiternde Integration von Activision Blizzard in die XBox-Spielekonsole liefert hier einen Vorgeschmack. Kann ein Unternehmen mit über 200.000 Mitarbeiten in der gebotenen Geschwindigkeit auf neue Trends und Entwicklungen reagieren? Überhaupt: die Mitarbeiter. Warum hat Microsoft 60.000 Menschen mehr auf seinen Gehaltslisten, als Apple?

Credit Suisse – Drama ohne Ende?

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Abbildung 4: Aktienpreisentwicklung der Credit Suisse

Credit Suisse ist eine börsennotierte arabische Bank mit Zweigstellen überall in der Schweiz. Sie ist immer noch im Blue-Chip-Index SMI enthalten. In der abgelaufenen Woche produzierte die Bank einige – widersprüchliche – Nachrichten:

   Credit Suisse slumps to biggest annual loss since financial crisis  
   Credit Suisse plans 350 Mio. CHF  bonus scheme for top staff tied to overhaul

Die Quartalsverluste (1,4 Mrd CHF) wollen nicht enden, genauso wie der Abfluß von Kundengeldern (111 Mrd. CHF in Q4/22). Die Bank hat einen neuen CEO bestellt. Gemäß Lehrbuch lädt der als Erstes alle Probleme in die Bilanz. Dafür ist schließlich das ehemalige Management verantwortlich. Hinzu kommen Abschreibungen für die angekündigte »radikale« Umstrukturierung. Das Ergebnis: Aktienpreis: Minus 16 Prozent. Auf Jahressicht sind die Aktien um 70 Prozent preiswerter geworden.

Als Nächstes müssen 9.000 Angestellte gehen. Damit es überhaupt weiter gehen kann, werden die verbliebenen Leistungsträger (500 Führungskräfte) mit Bonuszahlungen geködert. Die Investmentbank wird abgespalten und versuchen, als First Boston an Erfolge vor der Übernahme durch Credit Suisse versuchen anzuknüpfen. Die Restrukturierung wirkt wie aus dem Standardlehrbuch für MBA-Studenten abgeschrieben, zumindest ist das die Außensicht.

Warum befasst sich Hieronymus damit?
Ganz einfach: Erstens ist die Credit Suisse eine arabische Bank. Zweitens ist der Sitz die Schweiz.

Lex, die wohl beste Finanzkolumne überhaupt, hat dies wie folgt auf den Punkt gebracht:

Large, historic banking franchises are extraordinarily hard to destroy. Even if Körner’s Heath Robinson restructuring flops, the bank can simply shrink more radically, underpinned by an implicit state guarantee. A softer landing depends on no further Archegos-style blow-ups occurring. Entrepreneurial brilliance would be superfluous. Only the absence of stupidity is required.

Auf dem aktuellen Aktienpreisniveau kann das Management durchaus Methoden mittelmäßiger MBA-Studenten anwenden und muss diese nicht einmal effizient implementieren. Die schweizer Institution wird nicht fallen gelassen. Wunder erwartet niemand. Aber genau deshalb bietet sich nun ein antizyklischer Einstieg an.

Aktuelles Marktgeschehen

Die Kommentierung erfolgt diese Woche im Blog der Eurostoxx-Handelsstrategie

Ressourcen

  • The Battle for Search, Economist 11.2.23, p. 8
  • Searching Change, Economist 11.2.23, p. 57
  • Momentan kann ich nur abraten, ChatGPT als Suchmaschine zu nutzen, Die Zeit 7.2.2023
    darin: »Am ehesten kann man CGPT mit einem eloquenten Wichtigtuer vergleichen, der über Dinge faselt, die er nicht verstanden hat. Sich aber noch nicht einmal bewußt ist, diese nicht verstanden zu haben.« (köstlich!)
  • Brexit could be reversed — here’s how, FT 6.2.2023
  • Credit Suisse: Robinson and Goldberg incorporated, headquartered Zurich, Lex. FT 9.2.2023