Nach dem kleinen Verfall

Die Berichtssaison ist durch, der kleine Verfallstag ebenfalls. Europäische Aktien sind aktuell gesucht, inzwischen aber absolut und relativ teuer. Anleihen locken hingegen mit sehr attraktiven Konditionen. Im Ergebnis werden die Aktienmärkte immer spekulativer.

Stuttgart, 18. Februar 2023.

Der Zufall will es, dass die aktuelle Ausgabe von India Today hier auf dem (virtuellen) Schreibtisch rumliegt. Die Coverstory: The Fallout. Es geht (natürlich) um die Entwicklungen rund um die Adani-Familie.

Zur Erinnerung: Der Shortseller Hindenburg bezichtigt die zuvor weltweit dritt-vermögendste Familie massivem Betrugs und verweist auf die opaken Strukturen im engsten Umfeld des Premierministers Modi, die das Geschäftsgebaren jahrelang verschleiert haben.

Wie zum Hohn prangt gleich auf der Seite 2+3 der aktuellen India Today folgende Ankündigung:

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Es ist kein Zufall, dass Uttar Pradesh der Bundesstaat mit der größten Luftverschmutzung überhaupt ist. Und allein dies ist das Gegenteil von “Good Governance”! Sogar die prowirtschaftliche India Today widmet dem Thema Luftverschmutzung und deren gesundheitlichen Folgen einen dreiseitigen Artikel. Die Berichterstattung erinnert an die Bundesrepublik der 1960er und 70er; damals reagierten Kinder mit Krupp-Husten auf Smog und auch hierzulande: eine totale Fokussierung der Politik auf Wachstum.

Ein weitere Aspekt erinnert bei der Lektüre von India Today an die alte Bundesrepublik: Frauen kommen nur in Werbebotschaften vor. Sämtliche redaktionelle Photos bilden Männer ab, ausschließlich. Das wirkt geradezu aus der Zeit gefallen.

Der indische Aktienmarkt hat die Preissenkungen bei den börsennotierten Adani-Unternehmen gut verkraftet. Ein allgemeiner Ausverkauf fand nicht statt.

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Abbildung 1: Preisverlauf des indischen Leitindex

Die Bäume wachsen allerdings nicht in den Himmel. Die Kombination offenbarer Governance-Defizite und global weiter steigende Marktzinsen fordert ihren Tribut. Indische Unternehmen müssen ausländischen Investoren auskömmliche Risikoabschläge bieten. Das durchschnittliche KGV der Sensex-Unternehmen beträgt 23,3, das ist doppelt so hoch wie in China oder Indonesien. Ob langfristiges Kapital weiter nach Indien strömt, dürfte maßgeblich vom Management der Adani-Krise abhängen.

Aktuell streut man interessierten Beobachtern wieder Sand in die Augen. Gemäß der India Today sind die staatlichen indischen Banken Gläubiger für 38 Prozent der Gesamtschulden. Weitere 10 % der Verbindlichkeiten halten Privatbanken. Immerhin sind bei 11% der ausgewiesenen Verbindlichkeiten Adani-Gesellschaften selbst Gläubiger.

Nun kündigt Adani jede Woche weitere vorzeitige Tilgungen von Krediten an. Woher dieses Kapital bei einem der weltweit höchstverschuldeten Unternehmen auf einmal kommt, ist unbekannt. Hieronymus vermutet Financial Engineering.

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Abbildung 2: Preisverlauf einer Anleihe von Adani-Ports (2032)

Trotzdem sind einige Assets des Adani-Imperiums inzwischen günstig bepreist. Eine (in USD denominierte) Anleihe des Hafenbetreibers Adani Ports (KGV der Aktie: 22) wird aktuell (in Frankfurt) mit einer Verzinsung von mehr als neun Prozent gehandelt. Im Chart sieht man schön den Effekt des Hindeburg-Reports. Interessant: Die Preise pendeln sich auf dem Niveau vom November 2022 ein. Die Notierung spiegelt damit eine Knappheit an Liquidität wieder, aber keinesfalls einen möglichen Ausfall. Mutigen winkt bis 2032 eine jährliche Rendite von 9,5 %. Aber auch hier gilt: Augen auf! Ebenfalls in Deutschland handelbar sind »grüne« Anleihen von Adani Green Energy. Die Aktie ist selbst nach dem Preisrutsch mit einem KGV von 237 bewertet. Die USD-denominierten Anleihen bieten Renditen um sieben Prozent. Hier stimmt das Chance-Risiko-Profil auch jetzt nicht.

Anleihen als Renditepferdchen

Das obige Beispiel zeigt exemplarisch, wie attraktiv Anleihen aktuell sind. Absolut und relativ!

Es ist völlig illusorisch, von einem Aktien-Investment in einen Hafenbetreiber eine jährliche Rendite von etwa 10 Prozent zu erwarten. Die Erfolgswahrscheinlichkeit einer solchen Wette ist geringer als 20 Prozent. Diese Wahrscheinlichkeit steigt mit dem Erwerb der Anleihe der Adani-Ports auf 80 Prozent.

Diese Relation gilt auf der gesamten Zeitachse, also für kurz- und für langfristige Engagements.

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Abbildung 3: Renditeverlauf von US-Kurzläufern (1Y)

US-Staatsanleihen mit einer Laufzeit von einem Jahr bieten aktuell eine Rendite von 4,999 Prozent. Hand aufs Herz, wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine beliebige US-Aktie eine bessere Verzinsung des Kapitals ermöglicht?

Aktuell gebietet die Ratio den Erwerb kurzlaufender Staatsanleihen. Diese sind – um das Unwort zu benutzen – Alternativlos. Der Zinsanhebungsprozess ist zwar nicht abgeschlossen. Selbst bei weiter steigenden Notierungen ist das angelegte Kapital in Anleihen inflationsgeschützt. Das gilt nicht für volatile Aktienengagements.

Gemäß der aktuellen Erhebung der Bank of America stimmen Investoren tatsächlich mit den Füßen ab.

Anlageklasse Flow Anlageklasse Flow seit Jahresbeginn
Anleihen +5,5 Mrd. $ Cash +1 Mrd. $
Aktien +0,3 Mrd. $ Gold +45 Mio. $

Die Netto-Zuflüsse bei Anleihen zeigen nur das halbe Bild. Anleger schichteten 2,6 Mrd. $ aus spekulativen HighYield-Anleihen und 700 Mio$ aus Schwellenländern in Staatsanleihen und InvestmentGrade-Anleihen um. Europäische Aktien verzeichneten Zuflüsse (1,5 Mrd. $), Technologiewerte und China (zusammen: 1,1 Mrd. $) wurden abgestoßen.

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Abbildung 4: EuoStoxx 600 (Blau), Dividendenrendite(Stoxx 600) - Rendite dt. Staatsanleihen 10Y, Quelle: Sentix

Die Abb. 4 unterlegt diesen Zusammenhang mit hard Facts. In der vergangenen Woche hat der französische Aktienmarkt ein neues Allzeit-Hoch markiert. Europäische Aktien sind aktuell globale Outperformer. Obwohl der Indexstand (Stoxx 600) deutlich unterhalb des bisherigen Hochs im Herbst 2021 ist, sind die Titel aktuell erheblich weniger interessant. Im Chart ist in Orange die Differenz zwischen der Dividendenrendite des Aktienindex und sicheren Staatsanleihen eingezeichnet. Diese verringert sich kontinuierlich. In den USA ist dieser Indikator negativ, in Europa noch minimal positiv. Es macht schlicht ökonomisch keinen Sinn, Aktien als Investment zu erwerben, weder in den USA noch in Europa.

Der aktuelle Preistrend ist zu nahezu 100 Prozent spekulationsgetrieben. Das ist die denkbar schlechteste Voraussetzung für eine Fortsetzung des Preistrends.

Das erklärt aktuelle Preismuster.

Preismuster nach Quartalszahlen

Die Berichtssaison ist nahezu abgeschlossen. Auffällig sind die Preisbewegungen bei Aktien kurz vor und nach der Veröffentlichung der Zahlenwerke. Drei willkürlich herausgegriffene Aktien:

  • Thyssen Krupp: Preisabschlag nach Veröffentlichung der Zahlen: -10 Prozent. Dieser Abschlag wurde in vier Handelstagen egalisiert
  • Shopify: Preisaufschlag vor der Veröffentlichung der Zahlen: + 5,5 %. Preisabschlag am Folgetag: -16 %. Hier setzte sich der Preisimpuls am Folgetag fort.
  • Albermale: Preisaufschlag nach Veröffentlichung der Zahlen: +5 %. Preisabschlag zum Wochenende: -10 %.

Die drei Beispiele eint eine Outperformance gegenüber dem Index seit dem Jahreswechsel. Die Veröffentlichung des Zahlenwerks triggert überall den Abbau spekulativer Positionen. Bei Thyssen Krupp haben Spekulanten die Staffel an langfristigere Marktteilnehmer übergeben. Shopify wird als Unternehmen ohne positiven Cash-Flow offenbar fallen gelassen. Bei Albermale sind die Perspektiven ähnlich positiv, wie bei Thyssen Krupp. Der Preisabschlag könnte genauso rasch egalisiert werden.

Generell erwartet Hieronymus in den nächsten Wochen keine substanziellen Preisanhebungen bei Aktien. Vielmehr dürfte die Perspektive auf hohe Lohnabschlüsse die Erträge der Kapitalseite begrenzen. Unmittelbare Trigger für größere Preiskorrekturen sind auf der anderen Seite nicht erkennbar. Nachdenklich macht allenfalls die zuletzt trotz steigender Marktpreise anziehende Volatilität.

Ressourcen

  • A LUNG THREAT CALLED COPD – Chronic obstructive pulmonary disease sees a rise in India as the foul air of our cities takes a toll on our respiratory systems, India Today, 20.2.2023, p. 55
  • South Asia’s filthy air: Choked and gasping, Economist, 18.2.2023, p. 46