Patriotische Kapitalmärkte

Nach einer Schocksekunde hat sich die europäische Staatengemeinschaft zu einer einheitlichen Reaktion auf den russischen Imperialismus durchgerungen. Das wird von den Finanzmärkten honoriert.

Stuttgart, 4. März 2023.

Inflation in Europa

In der Berichtswoche legten mehrere Statistikämter aktuelle Inflationsdaten vor. Wo man auch hinschaut: die Kerninflation ist auf dem Vormarsch.

Land Kerninflation Verbraucherpreis-Inflation Tendenz
Spanien 7,7 6,1 + 0,2 / +0,2
Frankreich 6,2 7,2 +0,2 / +0.2
Deutschland 5.6 9.3 0 / +0,1
Eurozone 5,6 8.5 +0,1 / 0

Nach der Veröffentlichung der jüngsten Daten erklommen die Rentenmärkte neue Renditehochpunkte, die Notierungen der Papiere sanken. Zugleich verschärfte sich die Inversion der Zinsstrukturkurve. Wohl um die Gemüter zu beruhigen, trat Christine Lagarde vor die Presse: »Ich erwarte in den kommenden Monaten deutlich sinkende Inflationsraten.«

Das beeindruckte die Spekulanten an den Aktienmärkten, Anleihehänder ließen sich nicht aus der Reserve locken.

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Abbildung 1: Preisverlauf des Bund-Futures

Der März-Kontrakt des Bund-Futures läuft in der kommenden Woche aus. Die Preisdynamik ist beeindruckend. Die Notierungen haben in drei Monaten 13 Basispunkte durchmessen und nun sogar das Low aus dem Dezember unterschritten.

Der Future der kurzlaufenden Schätze ist naturgemäß weniger volatil, zeigt aber einen noch beeindruckenden Trend.

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Abbildung 2: Preisverlauf des Schatz-Futures

Fazit: Die Rentenmärkte sind im Panik-Modus. Die zum Jahreswechsel dominante Hoffnung auf absehbar wieder sinkende Renditen ist völlig verschwunden. Beteuerungen der EZB, das Inflationshoch sei erreicht, verpuffen wirkungslos.

Der Zinssatz für risikolose, kurzfristige Ausleihungen beträgt gegenwärtig 3,2 %, das ist ein 14-Jahreshoch. Der Kontraktwechsel markiert an den Rentenmärkten häufig eine Zäsur im Marktgeschehen. Die Abb. 1 zeigt dies beim Wechsel vom Dezember- in den März-Kontrakt. Die zuletzt wieder sehr starke Trenddynamik schreit zumindest nach einer technischen Korrektur. Außerdem sind die Rentenmärkte aus der Kapitalmarktperspektive aktuell attraktiv, wie zuletzt in den 1980ern.

Es sei denn, die Finanzierung des Krieges führt Europa in eine ausgedehnte Hochinflationsphase. Dann wäre es zielführend, Eigenkapital-Investments in die Profiteure der staatlich geförderten Kriegswirtschaft zu tätigen.

Genau das findet gerade statt. Seit Oktober divergieren Aktien- und Rentenmärkte in einem erstaunlichen Maße:

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Abbildung 3: Preisverlauf des Eurostoxx50 (Kerzen) und Bund-Future(blau)

Die Abb. 3 zeigt bis Oktober das übliche Preismuster: Aktien- und Rentenmärkte sind weitgehend korreliert. Sinkende Renditen sind normalerweise positiv für die Bewertungen von Aktien und umgekehrt. Die Preisverläufe divergieren in Krisenzeiten, z.B. mit dem Beginn des Einmarsches Russlands in die Ukraine. Dann sind Renten wirkungsvolle Stabilisatoren in einem Anlagedepot.

Seit Oktober herrscht allerdings »verkehrte Welt«. Trotz immer schlechterer Finanzierungskonditionen werden Aktien teurer. Dieses Phänomen ist nur in Europa zu beobachten. In den USA, Kanada und Australien sind die beiden Marktsegmente weiterhin synchron.

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Abbildung 4: Preisverlauf des S&P 500 (Kerzen) und US-Treasuries-Future(blau)
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Abbildung 5: Preisverlauf des ASX(Kerzen) und AUD-Treasuries-Future(blau)

Sowohl die kanadische als auch die australische Notenbank haben ihren Zinserhöhungszyklus abgeschlossen. Trotzdem erholen sich die Preise der Anleihen nicht. Dies zeigt, dass die Finanzmärkte in absehbarer Zeit mit stagnierenden Marktzinsen rechnen. Die Tatsache, dass die Aktienpreise zumindest in Australien in diesem Umfeld einen positiven Trend ausgebildet haben, ist ein Hinweis auf die Resilienz der dortigen Ökonomie. Es zeigt auch, dass Aktienmärkte global strukturell gestützt sind.

Vorsorge zahlt sich aus

Zurück nach Europa. Die Zinssätze für Anleihen sind in den vergangenen Monaten explodiert. Kurzfristige Kredite kosten mindestens 3,2% p.a. plus Risikoaufschlag. Das ist angesichts einer fast zweistelligen Inflation immer noch extrem günstig. Im Zweijahresvergleich hat sich das Finanzierungsumfeld dennoch dramatisch gewandelt.

Darauf haben sich offenbar alle eingestellt: Schatzmeister der Regierungen, CFO’s von Unternehmen, Häuslebauer. Alle haben sich langfristig zu günstigen Konditionen verschuldet und, wo möglich, die Kreditportfolien ordentlich prolongiert. Das Ergebnis kann man aktuell bei italienischen Staatsanleihen bestaunen. Trotz gänzlich anderem Zinsumfeld hat die italienische Regierung keine Finanzierungssorgen. Die Renditen italienischer Staatsanleihen sind sogar weniger gestiegen als die der EU-Nachbarn. Auch die Bewertung von Immobilien ist atypisch nur wenig zurückgekommen. Wer eine günstige Finanzierung hat, hält am Bestand fest, die anderen warten auf wieder sinkende Zinsen.

Dies ist kein stabiler Zustand. Die Ökonomie wird von Entscheidungen der Vergangenheit am Laufen gehalten. Neue, ungeplante Investitionen werden weder von Staaten, Unternehmen, noch von Verbrauchern angeschoben. Eine abnehmende Wirtschaftsaktivität ist fast zwangsläufig. Die Bauwirtschaft wird bereits heute nur noch durch Alt- und Staatsaufträge gestützt. Am Freitag gab Amazon bekannt, den geplanten Ausbau des neuen Hauptquartiers zu verschieben. Das mag auch unternehmerische Gründe haben. Möglicherweise ist dies aber ein Vorbote eines beginnenden Liquiditätsengpasses, der alle Investitionen infrage stellt. Der Online-Händler versucht überall Kosten zu reduzieren. Da passt es nicht ins Bild, zu aktuellen Konditionen ein neues Verwaltungsgebäude zu bauen.

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Abbildung 6: Auf unbestimmte Zeit verschoben: Neubau des Helix in Arlington (Bildquelle: Amazon)

Staaten, Unternehmen und Gewerkschaften haben zwar die Möglichkeit, durch hohe Lohnabschlüsse kurzfristige Konjunkturanreize zu triggern. Der Preis hierfür ist allerdings eine Lohn-Preis-Spirale und langfristig hohe Marktzinsen. In den USA stiegen die Lohnstückkosten allein im vierten Quartal 2022 um 3,2 Prozent gestiegen. Das gab’s zuletzt in den 1970ern. Die Folgen sind bekannt.

Die Kapitalmärkte im Kriegsmodus

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Abbildung 7: Anatomie des Aktienmarkts während einer Kriegswirtscahft

Während der Nullzinsperiode wurde der heimische DAX zu einem Immobilien-Index. Inzwischen fristen Deutsche Wohnen und Vonovia nur noch ein Schattendasein. Der Stab wurde an Rüstungskonzerne weitergegeben. Rheinmetall zieht in den DAX. So sieht die Zeitenwende also aus.

Kriegszeiten sind inflationär (Inflationsraten: Korea-Krieg: 3,8%, Vietnam-Krieg: 4,3%, Golfkrieg: 4,7%, USA) und lukrativ für Aktionäre (Korea-Krieg: + 18%, Vietnam-Krieg: +7%, Golf-Krieg: +12%, Bezug: S&P 500), aber schwankungsfreudig (Draw-Down: Korea-Krieg: 16%, Vietnam-Krieg: 21%, Golf-Krieg: 27%, Bezug: Russell 2000). Patriotismus lohnt sich (mit starken Nerven) auch an den Kapitalmärkten. Es spielt keine Rolle, ob man sich auf der Seite des Kriegsgewinners engagiert, das zeigt die Abb. 7 eindrucksvoll.

Dies mag ein Grund sein, weshalb sich europäische Aktien trotz fraglicher Ertragsperspektiven aktuell guter Nachfrage erfreuen. Die Saisonalität spielt im weiteren Monatsverlauf den Optimisten in die Hände. Ab der zweiten März-Hälfte sind die Aktienmarktnotierungen saisonal gestützt. Angesichts des kritischen Zinsumfelds sind dies gute Voraussetzungen für einen Seitwärtsmarkt.

Das aktuelle Marktgeschehen am europäischen Aktienmarkt reflektiert der Blog der Eurostoxx-Handelsstrategie.

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