Die Ruhe vor der Flaute

Nachdem sich die Finanzmärkte in der Bankenkrise ausgekotzt haben, ist nun Bettruhe angesagt. Seit zwei Wochen pendeln die Notierungen in den USA in einer ungewöhnlich engen Handelsspanne. Das macht einige nervös. Klar ist: die Notierungen werden aus der Spanne zur Unterseite ausbrechen – irgendwann.

Stuttgart, 22. April 2023.

Lateinamerika schiebt sich wieder in den geopolitischen Fokus. Uruguay will ein Freihandelsabkommen mit China abschließen und stellt damit den Staatenbund Mercosur infrage. Brasilien unterstützt China bei möglichen Friedensverhandlungen, anstatt Europa in der Eindämmung der imperialen Bestrebungen Russlands zur Seite zu stehen. Bolivien steht am Rande einer Staatspleite. Staatsanleihen sind für die Hälfte der Nominalen zu bekommen. Die Währungsreserven der Notenbank sind verbraucht. Das Land hat seit der Erschließung umfangreicher Gas- und Ölvorkommen 2005 einen hohen Exportüberschuß und leistet sich eine Anbindung der lokalen Währung an den US-Dollar. Das Wirtschaftsmodell des Landes gleicht dem des Nachbarn Venezuela. Die Probleme auch: Ein Liter Benzin kostet 2011 0,54 $. Der Schmuggel in die Nachbarstaaten ist sehr lukrativ (und wird geduldet). Die Einnahmen fließen in Prestigeprojekte, anstatt Zukunftsinvestments anzukurbeln. Wie in Venezuela ist der Staat unfähig, sich an wandelnde Realitäten anzupassen. Die Ausbeuten aus den Öl- und Gasvorkommen gehen kontinuierlich zurück. Das Land hat zudem den größten informellen Sektor in Lateinamerika. Es erzielt seine Steuereinnahmen aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen (Gas, Öl, Gold, Kupfer, Lithium) anstatt der Besteuerung der Wertschöpfung im Land. Das Festhalten an der Dollar-Bindung könnte das Staatsmodell nun zum Einsturz bringen. Wenn die Bevölkerung gegen die eigene Regierung auf einen Bruch der Dollar-Bindung spekuliert (indem sie massenhaft den Umtausch in Dollar einfordert), ist eine feste Währungsbindung nicht mehr zu halten. Sollte die Währungsbindung aufgehoben werden, gerät das Land unmittelbar in den aus Argentinien bekannten Strudel aus Hyperinflation und Schuldenmemoranden.

Europa: Outperformance setzt sich fort

Trotz Krieg, hoher Inflation und der Gefahr, im sino-amerikanischen Großkonflikt zwischen die Fronten zu geraten, überrascht Europa ökonomisch. Am Freitag wurde der paneuropäische HCOB-Einkaufsmanager-Index für den Monat April veröffentlicht. Dieser Vorlaufindikator stieg überraschend von 53.7 auf 54,3 (alles über 50 bedeutet Expansion). Klassische Produktionsbetriebe leiden weiter unter hohen Energie- und Rohstoffpreisen sowie Lieferkettenstress. In vielen Dienstleistungssektoren boomt es hingegen.

Die Zinserwartungen wurden nach der Veröffentlichung weiter nach oben geschraubt. Die nächste Zinserhöhung der EZB ist ein Non-Event.

Die Finanzmärkte reagierten wenig überraschend mit Preissenkungen für Anleihen und Preisaufschlägen für Aktien. Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass steigende Zinsen steigenden Marktpreisen für Dividendentiteln nicht entgehen stehen. Erst wenn die EZB gezwungen ist, die Zinsen wieder zu senken, ist Gefahr im Verzug. Der EuroStoxx50 kletterte auf ein neues Jahreshoch und erreichte fast das Niveau des Jahres 2007. Vor Finanzkrise markierte der Index knapp über 4.500 ein Preistop.

Die Dividendensaison hat begonnen. Allein in der vergangenen Woche sind über 20 Indexpunkte als Ausschüttungen an die Investoren geflossen. Bis Mitte Mai fließen weitere 80 Indexpunkte ab. Das der Index trotzdem ein positives Wochenergebnis zustande bringt, ist ein Hinweis auf aktuelle Mittelzuflüsse. Die gegenwärtige Situation ist mit dem Herbst 2019 vergleichbar. Auch damals stiegen die Marktpreise wider aller Vernunft im Umfeld steigender Marktzinsen und niedrigen Preisschwankungen bei spekulativen Assets – bis die Corona-Pandemie dem Treiben ein abruptes Ende setzte.

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Abbildung 1: Preisverlauf des EuroStoxx50 und implizite Volatilität (blau)

Normalerweise gehen Preistrends an den Aktienmärkten von den USA aus. Dort könnte die FED bald gezwungen sein, die Leitzinsen wieder zu senken. Entsprechend pessimistisch ist die angelsächsisch dominierte Finanzberichterstattung. Die US-Aktienindizes treten seit einigen Wochen auf der Stelle. Das irritiert viele.

Zaubermittel Liquidität

Als Antwort auf die Bankenkrise haben die japanische Notenbank und die FED nichts unversucht gelassen, die faulen Anleihebestände zu neutralisieren. Das Volumen der bereitgestellten Liquidität wird auf 1 Billion USD geschätzt.

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Abbildung 2: Liquiditätsversorgung der durch Notenbankena (Quelle: CrossBorder Capital)

Dieses frische Kapital »erklärt« einen Preisanstieg von 10 Prozent. Der S&P 500 steht tatsächlich auf dem Preisniveau im Februar, das sind etwa 10 % mehr als im Zenit der Bankenkrise in der zweiten Markthälfte. Der marktbreite Russell 2000 notiert allerdings immer noch in Schlagdistanz zu den Tiefständen im März. Eine detaillierte Betrachtung zeigt dann auch: Die Rallye in S&P 500 und Nasdaq ist eine Veranstaltung weniger, hochkapitalisierter Einzelwerte: Apple, Amazon, Google, Microsoft, Meta, Nvida, Johnon & Johnson, Procter & Gamble, Walmart. Dies ist ein klassisches Muster für sehr reife Markttrends. Messerscharf schließt ein Analyst der Citigroup daraus, dass der nächste Bewegungsimpuls die Indizes mindestens in eine Korrektur führen wird.

Als Aufhänger dieser (überfälligen) Marktkorrektur wird das Austrocknen der Liquiditfacilitäten der FED aufgeführt. Tatsächlich kann die FED nicht die Zinsen anheben und gleichzeitig die Banken mit Liquidität überfluten. Das ist allerdings gar nicht notwendig. Solange die Transmissionsmechanismen der Kapitalmärkte reibungslos funktionieren, können sich Banken und Großunternehmen günstig mit Yen finanzieren. Der neue Vorsitzende der Bank of Japan machte in seiner ersten Amtshandlung unmissverständlich klar, dass Japan an seiner Nullzinspolitik festhalten wird. Den Großunternehmen steht es frei, sich durch die Ausgabe von Yen-denominierten Anleihen zu finanzieren. Der Zinssatz ermäßigt sich um die Hälfte. Man muss halt das Währungsrisiko managen.

Waren Buffet macht es vor. Berkshire Hathaway verdient ausgezeichnet daran, sich günstig in Japan zu verschulden, mit den eingenommenen mitteln Investment in japanischen Value-Werten zu tätigen und seine Dollar-Cash-Reserven zu hohen US-Zinsen in Staatsanleihen zu parken. Somit ist die Liquidätsversorgung in den USA eigentlich kein Thema.

Störend in diesem Bild ist die Outperformance Europas. Der Euro wertet kontinuierlich auf, die Aktienpreise steigen – anders als in den USA – auf breiter Front. Markttechnisch ist die Rallye in Europa gesund.

Leider zeigt die Vergangenheit, dass Phasen einer Outperformance Europas stets kurz sind. Es würde nicht überraschen, wenn das gerade beschriebene Muster nach einem False Breakout bereits im Mai der Vergangenheit angehört. Die Arbeitshypothese Hieronymus ist, dass die europäischen Indizes bis zum Monatswechsel ihre Outperformance fortsetzen und damit ein langfristiges Investment-Kaufsignal generieren. Sollte sich danach ein Anlass finden, Bestände kurzfristig abzubauen (z.B. ein ungünstiger Verlauf der ukrainischen Frühjahrsoffensive), wäre der Weg frei für eine größere Sommer-Korrektur – diesseits und jenseits des Atlantik. Es schadet nicht, zum Monatswechsel April/Mai sinnvolle Hedges für Bestandpositionen aufgebaut zu haben!

Turbulenzen bei Lithium-Werten

Albermale und Sociedad Química y Min­era de Chile (SQM) sind die beiden größten Produzenten von Lithiumcarbonat (für preiswerte Batterien) und Lithiumhydroxid (für reichweitenstarke Hochleistungsbatterien). Ihr Aktienpreis ist am Freitag um 9 bzw. 17 Prozent eingebrochen. Zuvor hat Gabriel Boric, der chilenische Präsident, öffentlichkeitswirksam per Ansprache im nationalen Fernsehen ein Gesetz auf den Weg gebracht, wonach die chilenischen Lithiumvorkommen verstaatlicht werden soll. Chile hat mit der staatlichen Kupfergesellschaft Coldeco sehr gute Erfahrungen gemacht. Mit dieser Maßnahme will Boric das Liquiditätsproblem der aktienmarktbasierten Rentenversicherung des Landes zumindest lindern.

Chile hat gegenwärtig einen Marktanteil von 30 Prozent am globalen Lithiummarkt. Anders als Kupfer ist Lithium kein knappes Gut. Man findet es quasi überall. Die Extraktion ist die zu lösende Aufgabe. Deshalb ist Lithium nicht vergleichbar mit seltenen Erden, Bunt- oder Edelmetallen und schon gar nicht mit fossilen Energieträgern. Als strategisch wichtiger Rohstoff stehen die Vorkommen in immer mehr Ländern unter Staatskontrolle: Mexiko hat seine Minen verstaatlicht, Simbabwe die Ausfuhr des nicht veredelten Rohstoffs ganz verboten. Von den Veränderungen in Chile ist SQM unmittelbar betroffen. Es war ursprünglich ein Staatsbetrieb und wurde im Zuge der neoliberalen Revolution unter Pinochet privatisiert. SQM könnte sogar in der zu gründenden nationalen Lithiumgesellschaft aufgehen.

Albermale ist auf der anderen Seite ein global diversifiziertes Unternehmen. Es bezieht den Rohstoff aus Kanada, Australien, Indonesien, Argentinien, Chile, usw. und Vorkommen in den Vereinigten Staaten. Die Firma stellt sich ähnlich auf, wie die eine global operierende Exxon.

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Abbildung 3: Preisentwicklung der Albermale und der Sociedad Química y Min­era de Chile(blau)

Der Aktienpreis der Albermale hat sich seit November gegen den Markttrend fast halbiert (von 340 auf 175 $). Der Marktpreis für Lithium ist im gleichen Zeitraum von 600 auf 180 $ zurückgegangen. Da die Nachfrage gerade nach höherwertigem Lithiumhydoxid stark steigt, kann Albermale seine Stärken als erste Station in der Wertschöpfungskette ausspielen und die zurückgehenden Margen bei der Förderung des Rohmaterials durch höhere Erträge in der Weiterverarbeitung kompensieren.

Der aktuelle Preisrückgang ist eine Gelegenheit für einen Positionsaufbau. Der starke Preisrutsch führt direkt zu hohen Volaitilitätskennzahlen. Optionen sind aktuell teuer (Implizite Volatilität: 52%). Hierdurch können im Stillhalterhandel gute Renditen bei sehr konservativen Strikes erzielt werden.

Ressourcen

  • Euro­zone business activity increases, FT 22.4.2023, p. 6
  • The Long view: Stocks stay air­borne despite investor fears over a crash landing, FT 22.4.2023, p 22
  • Buttonwood: Of price and yen, Warren Buffet is shaking Japans magic money tree, Economist, 22.4.2023, p. 67
  • Battery metals – Ahead of the pack – Why crashing lithium prices will not make electric cars cheaper, Economist, 22.4.2023 p.59
  • LEX: Chile/lithium: control goal, FT, 22.4.2023, p. 22
  • Chile leader stirs investor uncertainty with plan to bring lithium under state control, FT, 22.4.2023, P.8
  • On the brink. Financial bedlam in Bolivia. Economist, 22.4.2023, p. 11
  • On the brink. Out of gas and good ideas, Economist, 22.4.2023, p. 43