Tanz in den Mai

Tänzer kommen räumlich kaum voran. Es gilt, gemeinsam Spass zu haben, nicht rasch ins Ziel zu kommen. So ähnlich geht es derzeit an den Finanzmärkten auch zu. Die Mehrzahl der Werte auf den Kurszetteln handelt in Trandingranges, immer wenn Optimismus aufkommt, verkaufen Spekulanten, nehmen die Molltöne überhand, bildet sich ein Preisboden aus. Das könnte noch eine Weile so weiter gehen.

Stuttgart, 22. April 2023.

Die aktuelle Buttonwood-Kolumne des Economisten beginnt mit der lakonischen Feststellung, dass es in funktionierenden Märkten stets bereitwillige Käufer und Verkäufer gibt. Beide haben gute Argumente für ihre Handlungen.

An den Kapitalmärkten setzt eine Heerschar spezialisierter Verkäufer (die sog. Sell-Side) alles daran, Aktien, Anleihen, Fonds und andere Finanzprodukte zu möglichst hohen Preisen bevorzugt an unbedarfte Anleger abzugeben. Hierfür überziehen sie die sozialen Medien, die Tagespresse und das Börsenfernsehen mit einem unablässigen Strom guter Nachrichten und scheinbar tiefgründigen Analysen. Kostenlos natürlich.

Auf der anderen Seite stehen spezialisierte Unternehmen, die (gegen Entgelt) eigenes Research betreiben und ihren Kunden eine Orientierung über die wahren Marktkräfte versprechen. Im Rahmen ihres Marketings landen Auszüge der Pamphlete regelmäßig in der Finanzpresse.

Gemäß dieser Definition war die Quartalspräsentation der Fondsgesellschaft Sentix eine Sell-Side-Veranstaltung. Das Ziel der Protagonisten ist, möglichst viele Fondsanteile zu veräußern. Die Kernaussage der Fondsmanager: Wir trauen den Aktienmärkten nicht über den Weg, Anleihen sind King. In der Konsequenz ist die Aktienquote in den Sentix-Fonds derzeit minimal. Damit bewegen sich die Fonds im allgemeinen Mainstream. Die aktuelle Wochenanalyse der Bank of America (ein lupenreines Sell-Site Produkt) listet die Absätze der US-Fondsindustrie auf. Demnach flossen seit dem Jahresbeginn 120 Mrd. $ in Anleihen, davon mehr als die Hälfte in US-Staatsanleihen und 634 Mrd. $ in Geldmarktprodukte. Zum Vergleich: 2021 flossen über 900 Mrd. $ in US-Aktien (Einzelwerte, ETF’s und Fonds). Die Sentix-Fondsmanager verhalten sich also – entgegen ihrer werblichen Aussage – ziemlich Mainstreamhaft. Das ist angesichts der aktuellen Retail-Investor-Präferenz im Sinne der Maximierung des Fondsabsatzes zielführend.

Die Gegenposition nimmt der Heibel -Börsenbrief ein. In der aktuellen Ausgabe trommelt der Autor vehement zum Positionsaufbau. Das Hauptargument: Die Aktienmärkte haben alles Negative längst eingepreist. Weil die Risiken so offensichtlich sind, triggern kleinste positive Abweichungen Preisaufschläge.

Abgesehen davon, dass sich beide Wahrheiten ausschließen, hat Hieronymus ein grundsätzliches Problem: Die Argumente beider Seiten überzeugen nicht.

Die Fondsmanager von Sentix werden nicht müde, auf die auch hier allumfänglich ausgebreiteten Risikofaktoren hinzuweisen. Demnach sind Aktien teuer und Anleihen billig. Zeitgleich erkennt man an, dass Aktien als Assetklasse deutlich weniger zinssensitiv sind, als Anleihen. Weil Aktien objektiv teuer sind, Investoren in ihrer überwiegenden Mehrheit dies auch subjektiv so empfinden und diese Assetklasse deshalb meiden, prognostizieren die Fondsmanager sinkende Assetpreise.

Der Heibel-Börsenbrief schließt aus dem gleichen Datenkranz auf antizyklische Chancen bei Aktien. Die Begründung ist allerdings mindestens genauso fraglich. Beispielsweise soll die Perspektive auf sinkende Leitzinsen eine Aktienrallye anschieben. Auch wird die Resilienz der Marktpreise in Europa ob dem beständigen negativen Newsflow in der vergangenen Woche als Zeichen innerer Stärke interpretiert.

Dabei spricht sowohl das Chartbild als auch die Statistik der Aktienfonds für das genaue Gegenteil.

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Abbildung 1: Preisverlauf des CAC40 (1 Monat)

Gemäß der Statistik der Bank of America floss bis Mittwoch 7 Mrd. $ ausländisches Kapital aus europäischen Aktienfonds ab, die Ausflüsse halten seit drei Wochen an. Die Tatsache, dass sich die Marktpreise während der gerade laufenden Dividendensaison nicht verändern, als Resilienz zu interpretieren, ist gewagt. Frankreich hat bis dato den europäischen Markt permanent outperformt. Im April ist der Aktienpreisverlauf absolut neutral. Ganz leichte Erträge in der Monatsmitte wurden in der letzten Woche bei steigender Volatilität egalisiert.

Apropos Volatilität

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Abbildung 2: Volatilitätsentwicklung in Europa (VStoxx)

Die ist im April deutlich zurückgekommen. In der Abb. 2 fasst eine Kerze die Entwicklung einer Woche zusammen. Trotz größerer Intraday-Preisveränderungen hat sich die Volatilität per Wochenschluß nicht verändert. Die Kernaussage der Volatilitätsbetrachtung: Das Risiko für größere Preisabschläge ist aktuell gering, wie zuletzt im Oktober und November 2021. Von April 2021 bis Februar 2022 schwankte der EuroStoxx50 im Bereich 4.000 bis 4.400 Punkten. In der Periode vergleichbarer Volatilität durchmaß der Index die gesamte Handelsspanne von unten nach oben.

Vor einem Jahr war die saisonale Rhetorik (Sell in May …) mindestens genauso präsent, wie aktuell. Tatsächlich gaben die Marktpreise an den Aktienmärkten temporär ob der massiv steigenden Marktzinsen immer wieder nach. Sie erholten sich aber danach genauso schnell. Das Marktsentiment unterschied sich kaum vom Aktuellen. Angesichts der damals galoppierenden Inflation ist die Skepsis im Mai 2021 auch rückblickend nachvollziehbar. Sollten sich ein Jahr später weder die Argumente noch die Preisreaktion verändert haben?

In der Summe spricht gegenwärtig sehr viel für eine marktneutrale Handelsstrategie. Tage mit sinkenden Notierungen sind Gelegenheiten zum Positionsaufbau, steigende Notierungen Anlässe für Gewinnmitnahmen. Bevorzugte Handelsinstrumente: Optionen. Renditequelle: Der Zeitwertverfall. Motto: In der Ruhe liegt die Kraft.

Q2 Berichtssaison

In der Berichtswoche hat die Mehrzahl der börsennotierten Unternehmen in den USA die Q1-Quartalszahlen veröffentlicht. Die Berichtssaison ist damit durch. In Europa hat erst die Hälfte der Unternehmen die Jahres-HV inclusive der anschließenden Dividendenausschüttung hinter sich.

Prägnantestes Merkmal der US-Berichtssaison war die Impulslosigkeit des breiten Marktes

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Abbildung 3: Preisentwicklung des Russell 2000 (1 Monat)

Der Russell 2000 schloß fast exakt auf dem Preisniveau des Monatsbeginns.

In den USA beginnt mit dem Monatswechsel unmittelbar der impuls- und volumenarme Sommerhandel. Europa gleitet in den nächsten beiden Wochen allmählich in diese Marktphase. Unter saisonalen Aspekten beginnt die »saure Gurkenzeit«.

Bereits der vergangene Monat glänzte mit geringen Handelsspannen und abnehmenden -volumina. Die Aktienmärkte sind ab jetzt anfällig für spekulative, wenig nachhaltige Preistreibereien.

Outperformance der Technologiewerte

Dank einer starken Preisentwicklung zum Monatswechsel konnte die Nasdaq den April mit einem veritablen Preisaufschlag von 9 Prozent abschließen. Die Performance geht hier fast vollständig auf das Konto der dominanten Technologie-Giganten: Microsoft, Amazon, Meta, Alphabet, Nvidia. Die Ursache hierfür ist inzwischen auch bekannt: Hedge-Fonds hatten nach der Underperformance der Werte in 2022 auf eine Fortsetzung dieses Musters gewettet. Gemäß den Quartalsstatements kostete diese Wette 18 Mrd. $. Die Preissteigerungen in diesen Werten geht zu einem Großteil auf das Konto von Short-Eindeckungen.

Damit sollte die Phase der mysteriösen Outperformance der Technologietitel zu einem Abschluß kommen.

Underperformance der Chiphersteller

Futter für das Lager der Aktienbären liefert die inzwischen in den USA gelistete STMicroelectronics. Gemeinsam mit Infinion ist STM das Rückgrat der europäischen Chip-Initiative. Es ist das erklärte Ziel, die Abhängigkeit von asiatischen Produzenten zu reduzieren. Die beiden Unternehmen können mit massiver staatlicher Unterstützung expandieren.

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Abbildung 5: Preiseintwicklung der STMicroelectronics

Die Aktie hat zum Monatsbeginn ein Top bei 53,50 $ ausgebildet. Zum Monatswechsel handelt der Wert mit einem Abschlag von 10 $. Als Ursache müssen sinkende Nachfrage und nachgebende Chippreise in Taiwan
herhalten. Das Ausmaß des Ausverkaufs dieses Titels wird in den sozialen Medien als Vorbote übergreifender Preiskorrekturen herumgereicht. Hieronymus nimmt dies zur Kenntnis, sieht aber gerade beim Vergleich mit der Infineon kein sektorspezifisches Muster.

Die Causa Thyssen

Am Montag beendete Martina Merz, CEO von ThyssenKrupp, abrupt ihr Mandat. Der Vertrag lief eigentlich noch drei Jahre. Ohne eine weitere Begründung übergab sie die Aufgaben an den offenbar hektisch nominierten ehemaligen Vorstand von Siemens-Gamesa.

Der Einbruch der Aktie war Tagesthema.

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Abbildung 6: Preiseintwicklung der ThyssenKrupp

Bereits zur Wochenmitte zeigte sich mit Emirates Steel Arkan ein weißer Ritter. Frau Merz stand für einen harten Sanierungskurs von ThyssenKrupp. Eine Abspaltung des Stahlgeschäfts war zentrales Element der Strategie. Hieronymus hat schon die Abspaltung der Aufzugssparte nicht verstanden. Angesichts der Potenziale der grünen Stahlherstellung in Europa machte die Abspaltung dieser Zukunftssparte überhaupt keinen Sinn. Im Zuge einer möglichen Kooperation mit Arkan sind die Türen weit geöffnet für eine – im positiven Sinne – technologieoffene Fortsetzung der Stahlherstellung in Europa.

In diesem Zusammenhang ist die Charttechnik der Thyssen-Aktie interessant. Unter hohem Volumen wurde die gesamte Tradingrange durchhandelt, nachdem vorab ein False-Break der oberen Trendkanalbegrenzung auftrat. Damit wurde die Tradingrange lehrbuchartig bestätigt. Auf der Preisunterseite testete die Aktie ebenfalls die Grenze der Tradingrange. Es spricht einiges für eine Fortsetzung des Handels zwischen 6 und 7,5 Euro.

ThyssenKrupp gehört neben der Vodafone zu den interessantesten Turnaround-Spekulation am europäischen Kurszettel.

Ressourcen

  • Buttonwood: Grin and bear it; Buttonwood, Economist, 29.04.2023 p. 70
  • Heibel Newsticker, Börsenbrief, www.heibel-ticker.de/downloads/hts230430.pdf
  • Sentix, Strategie und Fondsupdate Q2 2023, youtube: https://www.youtube.com/watch?v=sXoF91kIivw