Schmuddelkind Mikrokredite

Viele Menschen wünschen sich, dass ihr persönliches Vermögen eine gute Rendite einbringt und zugleich anderen hilft. Mikrokreditfonds scheinen die Lösung zu sein.

Stuttgart, 10. Juni 2023.

Eine ganze Industrie lebt davon, gutgläubigen Zeitgenossen eine heile Investmentswelt zu verkaufen. Der Deal ist: Wir sorgen dafür, das mit dem uns anvertrauten Geld das Gute in der Welt gefördert wird. Dafür durchleuchten wir die Geldsenken intensiv. Was den gestrengen Kriterien genügt, muss kontinuierlich nachweisen, dass das Anlagekapital den Wünschen der Anleger entsprechend verwendet wird. Dafür begnügen sich die Kunden der ethischen Geldhäuser mit geringeren Renditen.

Das Label »ethische Geldanlage« ist fest in kirchlichen Händen. Banken und Anlageberater mit christlichen Wurzeln versprechen ihren Kunden Zinserträge und ein gutes Gewissen. Muslimische Banken und Anlagebeater dürfen keine Zinsen ausweisen. Das hindert sie nicht darin, ohne Scharm hohe Renditen zu versprechen.

Gibt man “Mikrokredit” in eine Suchmaschine ein, erscheinen neben der Definition gemäß Wikipedia auch in Deutschland Anzeigen hochpreisiger Kreditbanken. Aktuell beträgt der geforderte Zinssatz gemäß Kredit.Check24.de 11,5 Prozent. Willkommen bei den Schmuddelkindern.

Die eigentliche Wiege der Mikrokredite sind Sparvereine und Konsum- und Einkaufsgenossenschaften. Deren prominente, frühe Protagonisten waren Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) und Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883). Die Idee: Jenseits der üblichen Bonitätsprüfungen wurden vertrauenswürden Mitbürgern Kredite zu Sonderkonditionen bereitgestellt. Die soziale Aufsicht und der gemeinsame Wille, die frühkapitalistischen Strukturen zu brechen, waren zentrale Erfolgskriterien dieser Bewegung.

Diese Idee wurde in den 1970er Jahren in den damaligen Entwicklungsländern aufgegriffen. Protagonisten waren (gemäß Wikipedia) Elmar Pieroth(Togo) und der spätere Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunui aus Bangladesh.

Vermutlich weil die gesellschaftlichen Strukturen in den Zielregionen denen im frühkapitalistischen Europa glichen, waren Mikrokredite im 20. Jahrhundert sehr erfolgreich.

Dann sprang die Idee über in den Mainstream. Zeitgleich begann in den Industrieländern eine (rückblickend) zwei Jahrzehnte dauernde Nullzinsperiode. Es gab Geld im Überfluss, »gute« Geldsenken waren gesucht. Feuer frei für die christliche Marketingmaschine: Mikrokreditfonds helfen benachteiligten Frauen in Indien und Bangladesh, sonst chancenlosen Kleinbauern in Afrika, usw. Sie schütten zudem Renditen aus, gerade genug um das Interesse zu wecken, nicht zu hoch um den Anlegern das Gefühl vom Mildtätigkeit zu lassen.

Die »Story« trug: Das Volumen von Mikokreditfonds explodierte (und wächst weiter), 2010 waren global 70 Milliarden USD in Mikrokrediten gebunden, heute sind es schätzungsweise 130 Mrd. $, Tendenz weiter stark steigend. Auch weil nicht allein ethisch orientierte Kleinanleger aktiv investieren. In Deutschland mischen auch die staatliche KFW und selbst das BMZ mit. Ein Schelm, wer hier keine Spuren christlicher Nächstenliebe erkennt. Hieronymus bezeichnet dies als gelebten Postkolonismus (das ist scheinbar das Einzige, auf das sich die Ampel-Koalitionäre einigen können).

Die Realität der Mikrofinanzanlagen wird in einem aktuellem Feature des DLF eindrücklich geschildert: Die Geldmittel werden in den Markt »gedrückt«. Zumindest in Kambodscha findet keine Prüfung der Kredittragfähigkeit der Schuldner statt. Statt dessen führt die aggressive Verkaufspolitik die Landbevölkerung geradewegs in die Schuldenfalle.

Als ich jung war, kann ich mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern Schulden gehabt hätten. Sie waren arm, aber hatten keine Schulden. Sie konnten überleben. Aber heute gibt es Mikrokredite, ich habe Schulden und bin trotzdem arm.
Zitat aus dem DLF-Feature

Anstatt die frühkapitalistischen Strukturen zu brechen, zementieren die Kredite diese in der Praxis. Als Sicherheit müssen die Kreditnehmer Landtitel verpfänden. Können die hohen Kreditzinsen (in Kambodscha: 18%) nicht gezahlt werden, gehen die Ländereien an die Gläubiger über. Aus Kleinbauern werden so landlose Wanderarbeiter – ein typisches Merkmal des Frühkapitalismus.

Kapitalismusapostel erzählen eine andere Geschichte. Sie sehen in den Mikrokrediten den Beginn der Entwicklung eines gesunden Finanzsystems in den Schwellenländern. Tatsächlich prägen die Hochglanzfassaden der Mikrofinanz-Banken die Städte in den Zielländern. Vermutlich könnte sich ein eigenständiges Bankenwesen entwickeln, würden die dominierenden Fonds nicht permanent den Großteil der generierten Wertschöpfung in die Industrieländer schaufeln.

Fragezeichen

Um Kundengelder in niedrig verzinste Mikrokredit-Fonds zu locken, zeigen Anlageberater gern Statistiken mit niedrigen Ausfallraten. Was hinter niedrigen Ausfallraten steht, will der Kunde gar nicht wissen. In Kambodscha werden die Schuldner gezwungen, sich an anderer Stelle zu verschulden, notfalls zu Wucherzinsen.

In den Industrieländern läuft das Business zivilisierter ab. Es gibt einen Markt auch für notleidende Kredite. Und Statistiken.

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Abbildung 1: Volumen notleidender Autokredite in den USA

Wenn ein Kunde 60 Tage mit der Zinszahlung in Verzug ist, erhält der Kredit ein Subprime-Rating und wird in ein entsprechendes ABS-Produkt überführt. 2007 war die falsche Bewertung derartiger Kreditpakete die Ursache für die Finanzkrise. Aktuell geraten wieder viele US-Autokäufer in Zahlungsverzug.

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Abbildung 2: Entwicklung säumiger Kreditkarten in den USA

Ein ähnliches Bild zeichnet der Verlauf säumiger Kreditkartenkunden. Inbesondere junge Menschen benutzen ihre Kreditkarten exessiv. Beunruhigend ist die starke Zunahme säumiger Kreditkartenkunden.

Beides sind Indikationen für eine wachsende Verschuldung der unteren Einkommensschichten. Die hohe Dynamik beider Indikatoren sollte alle Warnglocken bezüglich der Konsumentwicklung anspringen lassen. Und tatsächlich:

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Abbildung 3: Einzelhandelsumsätze USA

Die Kauflaune der US-Amerikaner wächst nicht mehr. Trotzdem steigen die Assetpreise in den USA nun die dritte Woche in Folge.

Anders in Europa. Die in der Vorwoche angesprochene Divergenz der Preisentwicklungen in Europa und den USA setzte sich in dieser Woche fort. Charttechnisch hat es sich deutlich eingetrübt:

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Abbildung 4: Preisverlauf des EuroStoxx50 Index

In den Chart kann ein baerisches, sich zuspitzendes Dreieck eingezeichnet werden. Das daraus resultierende Kursabschlagspotenzial (4.000 Punkte) ist mit weniger als 10 Prozent allerdings überschaubar.

Zur Preisoberseite scheint die Luft raus zu sein. Das mag der Tatsache geschuldet sein, dass Europa nun eine technische Rezession durchläuft. Die zurückgehende Industrieproduktion tut ihr übriges

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Abbildung 5: Verlauf der Industrieproduktion in den Niederlanden

Der Rückgang in den Niederlanden wie auch in Deutschland ist nur mit dem im Zenit der Finanzkrise 2008 vergleichbar.

Fazit. Mit dem Kontraktwechsel am kommendem Freitag könnte an den Aktienmärkten eine Schwächeperiode eingeläutet werden. Übergeordnet treten europäische Aktien auf der Stelle. In den USA läuft die Rallye dagegen »wie am Schnürchen« weiter. Solange dort keine größere Korrektur einsetzt, sind die Marktpreise in Europa trotz weiter eintrübender Makrodaten gestützt.

Nachtrag. Nach Redaktionsschluß erreichte uns die folgende Graphik

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Abbildung 6: Titelzeilenindikatoralarm

Barrons ist die Standard-Börsen-Gazette in den USA. Das Magazin ist voll mit Sell-side-Stories. Es gibt nichts Besseres um den »Mood« des Mainstreams abzubilden.

Zu Beginn des Jahres 2022 war das Magazin euphorisch. Ein paar Monate später erkannte man einen neuen Bearmarket und in der aktuellen Ausgabe ruft die Redaktion eine Sommer-(AI)-Rallye aus. Ein klassischer Fall für den Titelzeilenindikator, ein massiver Bremsklotz für weitere Preisavancen.


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