Ukrainephantasie

Plötzlich ist die Dynamik zurück. Russland ist im Inneren geschwächt. Das eröffnet Perspektiven für eine Nachkriegsordnung. So könnten die Sommermonate an den Finanzmärkten doch noch spannend werden. Schließlich öffnen sich gerade für europäische Firmen profitable Geschäftsfelder. Das gilt wohl nicht für Windräder aus dem Hause Siemens. Dort pflegt man die Kultur der Wasserköpfe.

Stuttgart, 24. Juni 2023.

Ist es ein Zufall, dass sich zeitgleich zur großen Ukraine-Geberkonferenz in London, dem Besuch des indischen Ministerpräsidenten im Weißen Haus und zaghaften Friedensverhandlungen in Kopenhagen deutliche Risse im russischen Imperium zeigen? Der Westen lässt keinen Zweifel daran, dass die Ukraine ein zentraler Baustein in einem dekarbonisierten Europa ist und dass Russland für die Zerstörungen haftbar gemacht wird. Die BRICS-Staaten, bisher Verbündete Russlands, werden Zug um Zug von den Industrieländern eingefangen. Dann bringt der international als Terrorist gesuchte Anführer der Wagner-Söldner im Handstreich eine Küstenstadt am Don unter seine Kontrolle. Allein das ist ein Gamechanger.

Auffällig; Der Mini-Putsch begann mit mit der lakonischen Feststellung, dass der Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine an 24. Februar 2022 nicht notwendig war. Ausgerechnet der Chef der Wagner-Milizionäre bestätigt damit die westliche Version der Ereignisse und führt die russischen Propaganda vor. Mit welcher Begründung führt Moskau den Krieg jetzt noch weiter?

Inflationstreiber Sommerglück

In der Berichtswoche hob die Bank of England(BoE) den Leitzins um 0,5 auf 5 Prozent an. Vorher hatte das Statistikamt aktuelle Inflationsdaten veröffentlicht: 8,7 % (Mai 2023). Allgemein war mit einem Zinsschritt um 0,25 % gerechnet worden. Nach der Veröffentlichung der Statistik hat die BoE offenbar kurzfristig umdisponiert. Die FT mutmaßt, dass die Notenbank zu einer affektiven Geldpolitik übergegangen ist. Sie reagiert auf aktuelle Daten und konzentriert sich auf die Geldwertstabilität. Dies birgt die Gefahr von Kollateralschäden. Die Hypothekenzinsen betragen auf der britischen Insel inzwischen 6 %.

Zeitgleich emittiert das britische Schatzamt Rekordvolumen an Staatspapieren. Die aktuell hohen Zinsen werden den Staatshaushalt dauerhaft belasten. Seit dem Austritt aus der EU ist das Land nicht mehr an den EU-Stabilitätspakt gebunden, die Staatsverschuldung ist auf das Niveau von 1961 geklettert und übersteigt jetzt das Bruttoinlandsprodukt. .

Die Terminmärkte preisen für Großbritannien weitere Zinserhöhungen und ein Plateau bei 6,1 % ein. Am Donnerstag hatte Andrew Bailey, Mitglied des Vorstands der BoE, entsprechende Spekulationen selbst auf Nachfrage ausdrücklich nicht dementiert. Daraufhin stiegen die Renditen für Gilt’s mit 2 Jahren Laufzeit auf neue Höchststände. Interessanterweise profitierte das britische Pfund davon nicht. Im Gegenteil. Im Vorfeld des Zinsentscheids war die Währung (gegenüber dem US-Dollar) auf ein Jahreshoch gestiegen. Die Aussicht auf weiter steigende Leitzinsen triggerte Gewinnmitnahmen. Ob daraus eine Spekulation auf einen “Car Crash” wird, mit einem Einbruch im Immobilienbereich und bei Unternehmensfinanzierungen, wird sich zeigen.

Wie in Schweden (siehe Wochenbericht 23), scheint auch die Inflation in England durch Freizeitaktivitäten angeheizt zu werden. Open-Air-Konzerte, Restaurants und Biergärten: Überall sind die Preise überdurchschnittlich gestiegen, schreibt ebenfalls die FT. Die Gesellschaft entwickelt ein typisches Inflationsverhalten: Die Konzentration auf dem Moment, Geld ausgeben, sobald es verfügbar ist. Morgen ist es bereits weniger wert.

Molltöne aus dem Maschinenraum

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Abbildung 1: Auftragskomponente der Einkaufmanagerindizes in Europa

Einkäufer bedienen die Zukunft. Wenn der Vertrieb keine neuen Aufträge generiert, müssen weder Rohwaren beschafft noch Investitionen beschleunigt werden. In den produzierenden Unternehmen in der Eurozone zeigt sich ein ähnliches Bild wie 2022. Im Unterschied zu damals sind die Auftragsbücher nun weitgehend abgearbeitet und die Zinsen deutlich höher.

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Abbildung 2: Entwicklung der Preise im produzierenden Gewerbe

Gleichzeitig bahnt sich ein Disflations-Regime seinen Weg. Erstmals seit Mitte 2020 sind die Erzeugerpreise rückläufig.

Auch in Europa wird die Inflation durch den Dienstleistungssektor (und die Lohn-Preis-Spirale) weiter vorangetrieben. Konstante Preise für Güter und steigende Preise für Dienstleistungen – das ist: Stagflation.

An den Kapitalmärkten ist mit passiven Strategien wenig zu holen, weder bei Aktien noch bei Anleihen.
Statt dessen frohlockt Asien. Das in lokale Anleihen in Singapore gebundene Kapital hat sich seit 2016 auf 500 Mrd. SGD verdoppelt. Die Anleihen bieten einen Aufschlag von 0,5 Prozent zu US-Staatsanleihen und locken Gelder, die keinen sino-amerikanischen Konflikt-Risiken ausgesetzt werden sollen. Und Warren Buffet investiert trotz aller Risiken in Japan.

Taxifahrerblues

Die Legende gesagt, dass kurz vor einem Crash sich Küchenmädchen und Taxifaher über spekulative Geldanlagen austauschen. Das ist aktuell auch wieder so. Es werden aber keine heißen Wetten auf AI-Startup’s gehandelt. Statt dessen sind die Massen von der Aussicht auf bis zu 6 % Zinsen für Staatsanleihen euphorisiert.

In Europa flossen allein im Mai 12 Mrd. € in Staatsanleihen, in den USA waren es 27 Mrd. $, trotz der realen Gefahr eines US-Defaults insgesamt 113 Mrd. Dollar seit Jahresbeginn. Die Staaten haben keine Probleme, Schuldscheine abzusetzen, wenn sie Marktzinsen bieten.

Bis dato haben allerdings Aktienkäufer frohlockt. Deren Assets sind seit Jahresanfang über 10 Prozent wertvoller geworden, Anleihenpreise sind hingegen gefallen. Zukünftig müssen börsennotierte Unternehmen allerdings das Spagat bewerkstelligen, Arbeiter deutlich besser zu entlohnen, zeitgleich der Kapitalseite attraktivere Renditen zu bieten, als es Anleihen tun – all dies natürlich ohne die Kunden durch zu hohe Preise zu verschrecken.

Paradoxerweise erzeugt die Emissionsflut Liquidität. Die Hauptabnehmer von Staatsanleihen sind Banken, die nur eine minimale Margin hinterlegen müssen, um die geldwerten Papiere erwerben und bilanzieren zu können. In einem ökonomisch prosperierenden Umfeld triggert eine intelligente Industriepoltik auf diese Weise ein gesundes, planmäßiges Wirtschaftswachstum.

Hier schließt sich der Kreis zur Ukraine. Dort haben sich die Zeitebenen für den Wiederaufbau der Ukraine deutlich nach vorn verschoben. Es würde nicht überraschen, wenn Anleihenpreise (wegen des großen Kapitalbedarfs) weiter konstant bleiben und (zyklische) Aktien profitieren. Es ist fraglich, ob die Prognose eines langweiligen Börsensommers unter den verschobenen Rahmenbedingungen aufrecht erhalten werden kann.

Stand Freitag (23.06) entsprechen die geforderten Risikoprämien für europäische Bluechips denen für Staatsanleihen. Die geforderten Aufschläge sind mit 10 Prozent bei Aktien (implizite Volatilität, Oktober-Verfall) ähnlich hoch, wie das geforderte Aufgeld für Optionen für Staatsanleihen. Absicherungen für Anleihen sind vergleichsweise teuer, bei Aktien gibt es kaum Nachfrage. Die kommenden Wochen dürften spannend werden.

German (In-)Efficiency

Im ansonsten ruhigen Börsenumfeld machte am Freitag ausgerechnet Siemens Energy auf sich aufmerksam. Der Aktienkurs kollabierte unter sehr hohen Volumina um 30 Prozent, die Marktkapitalisierung sank um 6 Mrd. €. Das entspricht etwa der Hälfte der Bewertung der Windenergiesparte »Gamesa«, die im Mai 2022 aufgekauft wurde.

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Abbildung 3: Der Aktienpreisverlauf der Siemens Energy

Die Windenergiesparte liefert etwa ein Drittel des Deckungsbeitrags von Siemens Energy. Offenbar hat man die Due Diligence grob vernachlässigt. Anders lässt sich nicht erklären, wieso ein völlig aufgelöster CEO der Öffentlichkeit erklärt, dass etwa ein Drittel aller bereits ausgelieferten Windräder fehlerhaft sind und dass die »Reparatur« mindestens eine Milliarde Euro kosten wird. Siemens Energy hatte angekündigt, 2024 einen Gewinn auszuweisen. Das ist in weite Ferne gerückt.

Ebenso ist fraglich, ob Siemens von der Ausrüstung der Ukraine mit Windrädern profitieren kann. Die Konkurrenz (Vestas (DK), Goldwing (CH), GE (US), Envision, Mingyang und Windey (alle China)) schläft nicht. Das die heimische Konkurrenz in Gestalt der Nordex hiervon profitieren kann, ist zweifelhaft.

Nicht desto Trotz bietet der Abverkauf kurzfristig auch Möglichkeiten. Optionen der Siemens Energy sind gerade richtig teuer (Implizite Volatilität: 60 %). Optionsverkäufe entsprechend attraktiv. Sollten keine weiteren Anschlußverkäufe folgen, wird eine kleine Stillhalterposition eröffnet.


gg

Ressourcen

  • How the bond market is driving up UK mortgage rates. FT, 20.6.2023
  • Eurozone economy has slowed sharply, business survey showsa – Economists warn of possible recession in contrast to optimistic ECB forecasts; FT 23.06.2023
  • Taxi test for bonds signals end of the ‘Tina’ era. FT, 22.6.2023
  • Selling like hot chilli crab: a look at Singapore’s local bond boom, Fidility International
  • Siemens Energy: hurricane warning highlights industry-wide headwinds, FT, 23.06.2023