Die Vierprozentwelt

Die Notenbanken halten offiziell noch am Stabilitätsziel fest: zwei Prozent Inflation. Die Finanzmärkte richten sich schon auf eine Vierprozentwelt ein. Kapitalkosten sind höher, eine hohe Verschuldung ist toxisch. Dann sind Aktienpreise dauerhaft niedrig.

Stuttgart, 1. Juli 2023.

Im Vorfeld des diesjährigen Unabhängigkeitstages erleben die USA den ersten Höhepunkt des Wahlkampfes 2014: Die Republikaner zelebrieren ihre ultimative Deutungsmacht in kontroversen Supreme-Court-Urteilen. Zeitgleich predigt die demokratische Nomenklatura die Vorzüge der Bidenomics, eine Kombination aus Fiskal- und Industriepolitik, die eine Renaissance der Mittelschichten zum Ziel hat.

Es gibt einen kleinen gemeinsamen Nenner. Kapitalismus ohne Kompromisse ist Staatsräson. Beide Lager grenzen sich bewußt von der sozialen Marktwirtschaft Europa’s ab.

Thames Water vor dem Kollaps

Dabei zelebriert die USA eine seltsame Form der Ambivalenz. An einigen Universitäten wird intensiv an progressiven Elementen des Kapitalismus geforscht. Anstatt die Ideen im eigenen Land auszuprobieren, exportiert man diese und studiert zunächst ihren Einfluß auf die Gesellschaften.

Das gilt für insbesondere für die Privatisierung der Wasser- und Energiesysteme. In den USA ist beides völlig unbestritten eine staatliche Aufgabe, kapitalistische Elemente sind vorhanden, die Märkte aber strikt reguliert. Ganz anders in England, Frankreich oder Chile. Diese Länder haben in den 1980ern exzessiv neoliberale Reformen umgesetzt. Die Ergebnisse dieser Experimente sind inzwischen sichtbar.

Die britische Wasserver- und -entsorgung wurde vollständig privatisiert. Es wurden Unternehmen gegründet, deren Assets die Wasserrechte sowie Wasser- und Abwasserleitungssysteme sind, nebst den angeschlossenen Verbrauchern als Kunden. Zu Beginn waren die Versorger schuldenfrei. Im Wettbewerb der Ideen sollte die optimale Wasserversorgungsinfrastruktur entstehen.

Es gibt kaum etwas langweiligeres, als die Wasserversorgung. Fixkosten müssen durch Verkaufserlöse gedeckt werden, Verbrauche sind statisch, fast alle Kosten prognostizierbar. Die Erträge sind damit langfristig planbar. Konservativer geht kaum.

Das macht das Geschäftsfeld unwiderstehlich für Investoren mit Interesse an langfristigen Zahlungsströmen. Die Gesellschafterstruktur von Thames Water, dem Wasserversorger des Großraums London, ist deshalb ein Stelldichein von Pensionskassen, Staatsfonds und Managern »alternativer Assets«, die unisono »langfristige Investmentziele« vertreten, die Thames Water aber trotzdem anhalten, kontinuierlich hohe Dividenden auszuschütten.

In der Niedrig- und Nullzinsphase wurden hierfür die zukünftigen Zahlungsströme »kapitalisiert«: Die Gesellschaft nahm vermeintlich preiswerte Darlehen auf und schüttete die Einnahmen an die Gesellschafter aus. Auf diese Weise sammelte Thames Water 16 Milliarden Pfund an Verbindlichkeiten an, die sukzessive zu aktuellen Konditionen refinanziert werden müssen.

Noch vor 12 Monaten schien das kein Problem darzustellen. Aktionäre und Management waren sich einig in ihrer Einschätzung, Thames Water sei kerngesund.

Inzwischen hat sich die Zinslandschaft insbesondere in Großbritannien verändert. Der Inflationsdruck ist nachhaltig viel höher, als man es sich vor einem Jahr auszumalen vermochte (Inflationsrate: 8,7 %), eine Rückkehr zur Geldwertstabilität (2% Inflationsziel) ist nicht in Sicht. Die Bank of England erhöht die Leitzinsen aggressiv (zuletzt um 0,5 auf jetzt 5 %).

Thames Water benötigt eine Kapitalerhöhung um 1,5 Mrd. Pfund. Das Besondere: Die Gesellschaft kann nicht pleite gehen. Entweder die Gesellschafter schießen Kapital nach oder das Unternehmen wird verstaatlicht. Danna würden die Verbindlichkeiten unmittelbar sozialisiert und die konservative Regierung müsste für den Schlamassel geradestehen.

Das Thema dominierte die halbe Woche die Titelseiten der britischen Presse.

Am Freitag schließlich stimmte der Universities Superannuation Scheme, die Pensionskasse der britischen Universitäten und Forschungsinstitute, als größter Gesellschafter der Kapitalerhöhung zu. Damit die Thames Water wieder liquide. Die Kosten des Missmanagements trägt trotzdem die Gesellschaft. Die Reparatur der maroden Leitungssysteme muss zu aktuellen Konditionen finanziert werden; das impliziert weitere Preiserhöhungen. Die Erträge der Pensionskassen als Hauptgesellschafter sind verwässert, letztlich »zahlen« also die Pensionäre für die neoliberalen Eskapade mit dauerhaft gesenkten Kapitalrenditen..

Vonovia: Hoffnungsloser Fall oder Turnaroundkandidat?

Bittet man die Suchmaschinen, eine Übersicht der Verschuldung der Vonovia auszugeben, erscheint folgender Text:

»Die Nettoverschuldung der Vonovia, inklusive Deutsche Wohnen, verdoppelte sich nahezu auf 45,2 Milliarden Euro. Ende 2020 war jede Vonovia-Wohnung im Schnitt mit 16.000 Euro Schulden belastet. Ende 2021 waren es, inklusive Deutsche Wohnen, 29.000 Euro pro Wohnung. Im Jahr 2022 lag der Verschuldungsgrad LTV des Immobilienunternehmens bei etwa 45,1 Prozent.«

Das Management hat sich trotz des sich bereits abzeichnenden Zinserhöhungszyklus im Jahr 2021 die Deutsche Wohnen fremdkapitalfinanziert einverleibt. Der Aktienkurs damals: 57 Euro. Obwohl sich die Einnahmesituation kaum verändert hat, ist der Aktienkurs seitdem kollabiert. Aktuell notiert der Wert bei weniger als 18 Euro.

Die Ratio hinter dem Kursrückgang ist der sehr hohe Verschuldungsgrad. Je länger die Hochzinsphase andauert, desto schwieriger wird das Management der Verbindlichkeiten. Kapitalerhöhungen nach dem Vorbild von Lenzing (Wochenbericht 24) erscheinen ausgeschlossen. Bei weiter steigenden Marktzinsen würde die Gesellschaft Wohnungen abstoßen, die dann deutlich preiswerter sind, als im Rahmen der Übernahme der Deutsche Wohnen gezahlt wurde.

Das macht den Wert zu einer Zinswette.

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Abbildung 1: Aktienpreisentwicklung der Vonovia

Optionen der Vonovia sind teuer. Die Unsicherheit über die zukünftige Preisentwicklung ist hoch. Andererseits stagniert der Aktienkurs trotz kontinuierlich steigender Marktzinsen und zuletzt sinkender Immobilienpreise seit April. Das könnte als konstruktive Divergenz gedeutet werden, als Indikation, dass die derzeitigen Marktpreise bereits als preiswert angesehen werden: Vonovia ist ein Kandidaten für ein Sommer-Options-Engagement.

Im Rahmen der Stillhalterstrategie setzen wir auf eine Fortsetzung des Stabilisierungsversuchs. Im Erfolgsfall kann eine Rendite von fast 25 % pa vereinnahmt werden. Im Worst-Case werden die Aktien zu 16,75 € eingebucht. Sollte der Wert vom Markt als Turnaround-Kandidat entdeckt werden, wird die Zielrendite schneller erzielt. Der Wert ist nach der Lenzing der größte Wert im aktuellen Stillhalter-Portfolio. Die implizite Volatilität ist seit der Positionseröffnung kontinuierlich um 15 Prozent gesunken, obwohl die Option zwischenzeitlich ins Geld gelaufen ist. Dies ist ein Hinweis auf die Validität der Annahmen.

Stillhalter-Sommerpositionen

Die Sommermonate sind berüchtigt für unerklärliche Rallye-Phasen aber auch plötzliche Marktkorrekturen. Viele Titel auf den europäischen Kurszetteln sind zuletzt sehr teuer geworden. Dies sind Kandidaten für temporäre Abverkäufe. Werte wie Thyssen Krupp, Tui, Fresenius und Salzgitter haben dagegen kaum Speckpolster angesetzt, Gewinnmitnahmen sind kaum zu erwarten. Die Optionen dieser Titel sind auf der anderen Seite vergleichsweise teuer. Der »Markt« traut der Preisstabilität nicht. Hier sehen wir attraktive Chance-Risikoprofile im Stillhalterhandel.

Bayer: Rätselhafte Preisentwicklung

Nach der Übernahme der Monsanto wurde Bayer zu Recht abgestraft und der verantwortliche Vorstand ausgetauscht. Inzwischen hat Bayer die Ansprüche geschädigter Glyphosat-Anwender aber abgefunden.

Abgesehen von dem Pestizid-Geschäft war die Übernahme des US-Konkurrenten eine kluge Entscheidung. Ohne Bayer geht nun kaum moderne Landwirtschaft. Bayer hat das Saatgut, die Pflanzenschutzmittel und die Technologie, beides zusammen kleinteilig automatisiert auf Flächen auszubringen. Zugespitzt formuliert, hält Bayer den Schlüssel für eine klimagerechte Landwirtschaft, die 12 Mrd. Menschen ernähren kann.

Der Aktienpreis reflektiert diese Position allerdings nicht. Die Notierungen pendeln seit der Übernahme der Monsanto um die Marke von 50 €.

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Abbildung 2: Aktienpreisentwicklung der Bayer

Auffällig ist die niedrige implizite Volatilität. Sie rangiert mit 19 Prozent auf dem Niveau von HannoverRück, Beiersdorf und Henkel. Bayer hat die unternehmerische Fehlentscheidung teuer bezahlt. Die Verschuldung hat sich dauerhaft verdoppelt. Die Abfindung der Glyphosat-Geschädigten riß eine tiefe Wunde in die Kapitalstruktur des Unternehmens.

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Abbildung 3: Entwicklung der Verbindlichkeiten der Bayer SE

Trotz der Zukunftsperspektiven deutet nichts auf Spekulationen auf eine kurz- oder mittelfristige Rückkehr des Aktienpreises auf das Niveau vor der Übernahme von Monsanto hin. Zur Preisunterseite sind die Grenzen ausgiebig ausgelotet. Die positiven langfristigen Perspektiven kompensieren die Risiken der zuletzt weiter gestiegenen Verschuldung.

Der Wert bietet sich im Sommerhandel bei nachgebenden Preisen als Ersatz vorzeitig schließbarer Positionen förmlich an.