Bidenomics

In der vergangen Woche zeigten die US-Kapitalmärkte eine erstaunliche Stärke. Genauso wie Italien. Gemeinsam antizipieren beide Ökonomien den neuen Zeitgeist. Dieses Konzept löst die aus der Zeit gefallene Reagonomics ab und ändert Korrelationen.

Stuttgart, 8. Juli 2023.

Im Wochenbericht Katerstimmung … rief Hieronymus ein Ende der Outperformance europäischer Werte aus. Der Anlass der relativen Stärke von US-Werten war damals die Lösung des Schuldenstreits zwischen der Biden-Administration und dem Repräsentantenhaus.

Seitdem liefern die USA trotz eines dynamischen Zinsumfelds konstant Zeichen einer gesund prosperierenden Volkswirtschaft. Inzwischen ist hieraus eine klare Underperformance europäischer Aktientitel geworden. Das zeigt die täglich in der FT erscheinende Übersicht nur zu deutlich.

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Abbildung 1: Ausriss aus der FT: Jüngste Underperformance europäischer Aktienmärkte (8.7.2023)

Deutschland und England haben massive strukturelle Probleme, die Divergenz baut sich hier kontinuierlich aus. Spanien steht vor Neuwahlen und Frankreich ist durch die Massenproteste paralysiert. Überraschung: Ausgerechnet das postfaschistisch regierte Italien stemmt sich gegen den Trend. Die Outperformance ist auch hier vorbei. Die Marktpreise sind aber als Einziges auf Monatssicht klar gestiegen.

Der Glanz des Landes setzt sich am Rentenmarkt fort. Trotz Rekord-Staatsverschuldung sind italienische Staatsanleihen klare Outperformer:

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Abbildung 2: Preisverlauf der Futures(10J) für deutsche (blau) und italienische Staatsanleihen

Auf Jahressicht ist der Preis des Bund-Futures von 152 auf 131 gesunken. Der Preis für italienische Staatsanleihen ist nahezu konstant geblieben (120 – 114).

Die Mehrzahl der ausgegebenen Staatsanleihen wird in Italien selbst abgesetzt. Die Stabilität der Renditen ist ein Votum der Bürger für die Politik der Regierung, ein Vertrauensbeweis.

UK: stark steigende Renten-Renditen

Das genaue Gegenteil zeigt sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals. Im Januar gab das britische Schatzamt eine im Oktober 2025 fällige Staatsanleihe aus. Auf der Auktion wurde eine Rendite von 3,534 % festgezurrt. Am vergangenen Mittwoch wurde die Anleihe aufgestockt. Jetzt verlangten die Käufer eine Rendite von 5,668 Prozent. Das ist mehr als eine Klatsche. Der Kapitalmarkt sendet ein Stop-Signal für die Fiskalpolitik des Landes. Schlimmer: Großbritannien kann sich die Unterstützung der Ukraine nicht mehr leisten. Im Moskau dürften die Sektkorken geknallt sein, nach dieser Meldung.

Zeitenwende

Bemühen wir Hegel.

Die Hegelsche Dialektik (…) beschreibt die Entwicklung von Ideen und Konzepten durch einen Prozess der These, Antithese und Synthese. (…) In der These wird eine Idee oder ein Konzept vorgestellt. Die Antithese stellt das Gegenteil oder eine entgegengesetzte Idee dar. In der Synthese werden die beiden vorherigen Stufen miteinander verschmolzen und es entsteht eine neue, höhere Stufe der Erkenntnis. (Antwort von Bing Chat)

Die deutlichen Renditeanstiege britischer Staatsanleihen zeigen, dass die konservative Regierung auch das Vertrauen der Finanzmärkte verloren hat. Die Wahlprognosen zeigen bereits seit geraumer Zeit einen Erdrutschsieg der Labor-Partei an. Die bekennt sich offen zu den politischen Ideen der Bidenomics. Fast scheint es, als ob die Menschen es gar nicht erwarten können, ideologisch den USA zu folgen.

In der Berichtswoche feierte der britische Gesundheitsdienst NHS sein 75 jähriges Bestehen. Dessen Herunterwirtschaftung durch Regierungen jeder Couleur steht synonym für das Scheitern neoliberaler Konzepte. Ganz Großbritannien bekennt sich seit Thatcher zum Neoliberalismus. Unter Toni Blair, einem Sozialdemokraten, wurde der britische Neoliberalismus zum Vorbild für gesellschaftliche Reformen in ganz Europa, dem auch die damalige Rot-Grüne Bundesregierung folgte.

In dem Maße wie Thatcherismus und Neoliberalismus britischer Prägung Europa prägten, war die Reagonomics das ökonomische Leitthema in den USA. Der Erfolg der Wirtschaftspolitik von Clinton ist diesem Paradigma zuzuschreiben. Beide Konzepte waren über sämtliche Parteigrenzen hinweg überaus populär.

Thatcherismus und Reagonomics als Spielarten des Neoliberalismus stellen im hegelschen Sinn die These. Bidenomics ist die Antithese.

Sie ist – wie der Neoliberalismus – weder rechts noch links. Sowohl Nationalisten als auch Sozialisten können sich hinter dem Konzept versammeln. Welch Wunder, dass Italien unter Georgia Meloni hier anzudocken vermag. Das Versprechen: Bidenomics steht für eine Renaissance der Mittelschichten, für einen starken Staat, für Autarkie und nationale Werte. Wie Frau Melonie zeigt: Auch für Solidarität und ein Einstehen für westliche Werte, eben postfaschistisch.

Die Antithese nimmt Gestalt und Wirkmacht an. Das gesellschaftliche Pendel schwingt in Richtung eines Extrempunktes. Bidenomics dürfte die Welt auf absehbare Zeit prägen.

Das leitet direkt zu folgendem Chart.

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Abbildung 3: Preisverlauf der Futures(10J) US Staatsanleihen und Aktienpreisverlauf (S&P 500, blau)

Die Divergenz zwischen den Preisverläufen von Aktien und Renten in den USA ist mindestens erklärungsbedürftig. Die Abb. 3 zeigt bis in den April einen weitgehenden Gleichlauf der Preise. Sinkende Renditen (= steigende Preise für Renten) sind positiv für Aktien, steigende Renditen stellen Aktieninvestments in Frage.

Im Mai änderte sich dies. Die Anleihenpreise sanken über alle Laufzeiten. Davon unbeeindruckt stiegen die Preise für US-Aktien. Gleichzeitig endete die Underperformance der US-Indizes gegenüber Europa. Hieronymus bietet Hegel als Schlüssel für eine »Erklärung« der jüngsten Entwicklung an.

Jenseits aller politischen Gräben richtet sich das Kapital in den USA am Zeitgeist aus. Lange Trends widersetzt man sich besser nicht. In der Rückschau war auch die sozialdemokratische Ära unter Eisenhower in den USA zumindest eine Zeit lang eine Erfolgsgeschichte.

Das Ende von TLTRO

»Targeted Longer-Term Refinancing Operations« war ein Instrument der EZB, europäische Banken mit Liquidität zu versorgen. Sie erhielten gegen die Einreichung von Staatsanleihen Cash.

Zum Quartalswechsel gaben die Banken 491 Mrd. ausgeliehene Euro zurück. Damit ist die Bilanz der EZB von knapp 9 Billionen auf »nur« noch 7,2 Billionen Euro gesunken (53 % des GDP der Eurozone).

Im Ergebnis fehlen den Kapitalmärkten nun eine halbe Billion Euro Spekulationsmasse. Dies trifft sowohl die Renten- als auch die Aktienmärkte und erklärt die außergewöhnliche Marktschwäche.

Auch in den USA zieht die FED inzwischen Liquidität aus den Kapitalmärkten ab: Auf Jahressicht zog die FED 667 Mrd. $ ein – bisher marktschonend.

Konkurrenz zwischen Geld- und Aktienmarkt

Es gibt eine neue geflügelte Wortschöpfung: TARA

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Die jüngsten Preissteigerungen bei Aktien haben die Dividendenrenditen weiter sinken lassen. Festverzinste Anlagen werden gleichzeitig immer attraktiver. Hand aufs Herz: Gibt es außerhalb der Spekulation einen Grund, im Sommer 2023 in US-Aktien zu investieren? Die Gegenwart ähnelt aus dieser Perspektive sehr dem Umfeld der Jahre 1999/2000 und 2007/8.

Bidenomics stellt die Mittelschichten in den Mittelpunkt. Florierende Kapitalmärkte sind hierfür nicht zwingend. Es gibt folglich keinen »Bidenomics-Put«.