Licht und Schatten

Die gesellschaftlich relevanten Gruppen versammeln sich hinter der Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Wir spucken in die Hände und machen wieder alles selber, so lautet das aktuelle Sommermärchen. So viel Harmonie macht stutzig.

Stuttgart, 15. Juli 2023.

Kurz vor dem Sommerloch gaben der DGB und das »Institut der deutschen Wirtschaft« beim Deutschlandfunk ihre Standpunkte zur Wirtschaftspolitik bekannt. Der Finanzminister hatte vorgelegt. Die deutsche Wirtschaft befindet sich in der Rezession. Also schnürt die Regierung ein Steuer-Subventionspaket. Wer verspricht, nachhaltig zu investieren, bekommt Sonderabschreibungsrechte. Damit ist allen geholfen, sagt Lindner, den Unternehmen, den Steuerberatern, dem hiesigen Mittelstand und Last not Least der Zustimmungsrate für die FDP.

Dass der Sprecher des industrienahen »Instituts der Wirtschaft« dem FDP-Minister beispringt, ist keine Überraschung. Das aber auch der DGB diese Politik unterstützt, überrascht schon.

Angesprochen auf die Praxis, eine Industriepolitik mit dem Füllhorn zu betreiben, wirken die Argumente des DGB sind mindestens so konstruiert, wie die des Lobbyverbandes der Wirtschaft:
Wir leben in einer Phase des industriellen Umbruchs. Innovative Unternehmen können sich aussuchen, wo sie neue Produktionsstätten errichten. Es herrscht ein globaler Wettbewerb um nachhaltige Investitionen. Das rechtfertigt z.B. die Heraufsetzung der Subvention für das geplante Intel-Werk in Magdeburg von 6,8 auf 9,9 Mrd. €. Wegen der, in der Verfassung verankerten, »schwarzen Null« fehlt dieses Geld im Zweifel für den Ausbau von Kitas, Schulen und Universitäten. So setzt die Bundesrepublik die wirtschaftspolitische Zeitenwende um. Die Kapitalseite ist hocherfreut.

Der volkswirtschaftliche Nutzen einer robusten heimischen Chip-Produktion rechtfertigt Subventionen auch auf Kosten der sozialen Balance, darin sind sich der Finanzminister, das »Institut der deutschen Wirtschaft» und der DGB ausnahmsweise einig. Mit den gleichen Argument werden auch Subventionen der Chemie- und Stahl-Industrie gut geheißen: Das sind Schlüsseltechnologien, die muss eine führende Volkswirtschaft einfach haben.

Diese Politik scheint alternativlos zu sein. Anderswo sind die Summen noch absurder, die aus dem Ärmel gezaubert werden. So finanziert Indien den Bau eines Fertigungsstandorts von Micron mit einem Drittel der Summe, die für Hochschulförderung insgesamt ausgegeben wird. In den USA hat die Biden-Administration unlimitierte Fördertöpfe für nachhaltige und weniger nachhaltige Industrieansiedlungen aufgelegt, die intensiv genutzt werden. Wie in diesem Umfeld die Kerninflation nachhaltig zurückgehen soll, ist Hieronymus ein unerklärliches Rätsel.

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Abbildung 1: Investitionsvolumen für Industrieansiedlungen im Vergleich , Quelle: Dezernat Zukunft

Wein in den Subventionsreigen gießt der Economist in der aktuellen Ausgabe. Der Titel des Aufsatzes ist Programm:

Deluded about Manufacturing

Subsidies and protection for industries will not boost economic growth. They will hinder it.
Economist 15.7.2023, S. 11 + 60-62

Der Economist vertritt die These, dass eine derart unspezifische und teure Industriepolitik mehr Schaden als Nutzen anrichtet. Es werden Industrien gefördert, die auch ohne Subventionen hochprofitabel wären. Das Kapital wird suboptimal allokiert. Im Ergebnis werden jetzt die Grundlagen für chronisch defizitäre Produktionsstandorte der Zukunft gelegt.

Eine Chipfertigung ist keine Flugzeugproduktion und keine Raumfahrttechnik. Hier herrscht gesunder Wettbewerb. Die Konzentration der Fertigung in Taiwan und Korea ist eine Konsequenz eines funktionierdnen Marktes. Die Subventionen ändern nichts an einer mangelhaften Profitabilität anderswo. Eine Chipfertigung in Texas oder Madgeburg ist dauerhaft teurer als eine in Südostasien. Das ändert sich erst durch Innovationen. Für deren Förderung fehlt jedoch wegen der Industriepolitik mit dem Füllhorn das Kapital, so die Argumentation des Economisten.

Im Ergebnis legen die USA gerade die Grundlagen für einen zweiten »Rust-Belt«, diesmal mit Reinraum-Instriebrachen anstatt alten Fließbandfertigungen.

Für Deutschland gilt entsprechendes. Intel hat die Entwicklungsabteilung in München ohne Subventionen aufgestockt. Das rechnet sich und ist strategisch sinnvoll. Sobald der aktuelle Hype vorbei ist, wird die Fertigung in der Offline-Location Magdeburg zu einem Problem- bzw. Sanierungsfall. Das benachbarte Saxony-Valley ist nicht grundlos ein permanentes Subventionsgrab.

Exkurs: Nachhaltige Industriepolitik in Deutschland

Es gibt auch Positivbeispiele für eine nachhaltige Industriepolitik. Die schaffen es nicht in die Medien. Als Paradebeispiel gilt der an den Bodensee-Industriehub angebundene schwäbische Medizintechnik-Cluster. Mitten in der schwäbischen Pampa ist Arbeitslosigkeit quasi nicht existent und die Löhne erreichen das Niveau der Ballungszentren. Auslagerungen ins Ausland sind hier kaum sinnvoll. Das wäre eine Blaupause für die praktische Umsetzung der Bidenomics in Europa. Statt dessen drehen die Regierenden lieber »das große Rad«.

Der Economist führt wortreich aus, dass die Auslagerung der industriellen Produktion in die Schwellenländer einer ökonomischen Logik folgte. Die bloße Reintegration in die Volkswirtschaften der Industrieländer ist zwar modern und folgt dem Zeitgeist, aber ökonomischer Unsinn.

Aktuell wetteifern Industrie- und Schwellenländer um Industrieansiedlungen. In den USA heißt das Programm »Bidenomics«, in Europa »Green Deal«, in China »Made in China« und in Indien »Made in India«. Das sind heute ähnlich paradiesische Zustände für die Chipfertigung wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Automobilhersteller. Das Ergebnis könnte ähnlich aussehen.

Mitsubishi schließt Fabrik in China

Weil die Auslieferungen auf Jahressicht um 75 Prozent eingebrochen sind, zieht sich Mitsubishi aus China zurück.
Interessant ist, was der gerade freigeschaltete Service »bard.google.com« dazu sagt

what do you know about the shutdown of the car production of mitsubish in china?


Mitsubishi Motors Corporation (MMC) has suspended production of cars in China
indefinitely. The company has been struggling to compete in the world's largest
car market, as Chinese consumers increasingly shift to electric vehicles.

MMC's joint venture with Guangzhou Automobile Group (GAC) has been producing
the Outlander SUV in China since 2012. However, sales of the Outlander have
been declining in recent years, as Chinese consumers have shown more interest
in electric vehicles.

In May 2023, MMC announced that it would be suspending production of the
Outlander in China for three months. The company said that it was taking this
step to "reevaluate its product lineup and production strategy" in China.

In July 2023, MMC announced that it would be extending the suspension of
production in China indefinitely. The company said that it was "still
evaluating the situation" and that it would not be able to say when production
would resume.

(...)

Da zeigt sich das neue Gesicht der Suchmaschinen.

Zum Vergleich: »bing.com/chat« liefert auf die identische Frage folgendes Suchergebnis

Mitsubishi Motors has suspended its China business indefinitely and will lay
off staff after years of poor sales in a market rapidly turning to electric
vehicles. The Japanese automaker said that China’s transition away from
gasoline cars to cleaner vehicles had hit its existing line up and seen sales
fall far below expectations.

und zitiert Bloomberg als Quelle.

Es erfordert nicht viel Phantasie, hieraus auf die Jahresverkaufszahlen der deutschen Autobauer zu schließen.

Dissonanz zwischen Marktentwicklung und Konjunktur

Die Aktien- und Rentenmärkte haussierten in der vergangenen Woche. Allgemein werden nachlassende Inflationsperspektiven hierfür verantwortlich gemacht. Die ferienbedingt wenigen verbliebenen Händler und weiterhin vollständig präsenten Handelsautomaten sogen die Wasserstandsmeldungen aus den USA begierig ein und zündeten ein Kursfeuerwerk. Nicht nur in den USA, auch in Europa. Gleichzeitig wertete der US-Dollar gegenüber dem Euro stark ab. Dies könnte naiverweise als Indiz für Kapitalverschiebungen in Richtung Europa interpretiert werden. In das Bild passt auch die weiter zurückgehende Volatilität am Aktienmarkt.

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Abbildung 2: Preisentwcklung des EuroStoxx-Index

Der Euro wertet auf, Aktien und Anleihen werden teurer, die Volatilität sinkt: Augenscheinlich sind die Marktteilnehmer völlig entspannt und sich ihrer Sache sehr sicher.

An der Macrofront bestimmen weiterhin Molltöne das Bild. Die Inflation ist in Deutschland und Schweden weiter gestiegen. Am Freitag meldet das Handelsblatt:

In der monatlichen Konjunkturumfrage des Ifo-Instituts sank das Geschäftsklima
in der Chemieindustrie zuletzt auf minus 28,3 Punkte – im Mai lag das Barometer
noch bei minus 12,5 Punkten.

„Die Weltwirtschaft lahmt, und das bekommen auch wir zu spüren“, sagte
Evonik-Chef Christian Kullmann Anfang der Woche, als Evonik seine Ziele nach
unten korrigierte. Über solch einen langen Zeitraum habe er einen so schwachen
Absatz „vielleicht noch nie“ erlebt.

Auch die Derivate-Märkte zeigen ein anderes Bild. An der Eurex ist das Put-Call-Verhältnis für Optionen auf den EuroStoxx-Index auf ein neues Alltime-High gestiegen. Dies wird als Konsequenz der fulminanten Kursrallye des Index interpretiert, die kaum jemand rational nachvollziehen kann. Wer zu den aktuellen Konditionen den Index (oder die Indexmitglieder) kaufen muss, sichert sich preiswert gegen starke Abverkäufe ab.
Die Put-Call-Ratio steigt, wenn mehr Put-Optionen eröffnet werden als Call’s. Eine ähnliche Situation gab es unmittelbar vor dem Corona-Crash. In Januar 2020 waren die Aktiennotierungen in Europa ebenfalls sehr hoch, die Marktvolatilität vergleichbar mit der Gegenwart und die Put-Call-Ratio stieg und stieg. In den USA ist es genau anders herum. Dort steigen Marktpreise und Spekulationslaune: Das Put-Call-Verhältnis für Indexoptionen auf den S&P 500 ist auf 0,8 gesunken und zeigt entspannte Sorglosigkeit an.

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Abbildung 3: Entwcklung des Put-Call Ratio für den Euro-Stoxx

Die letzen Wochen zeigen, dass die Marktpreise im derzeitigen Sommerhandel sich kaum um die niedrige Volatilität scheren. Sowohl die Amplitude der Wellen innerhalb des aktuellen Seitwärtsregimes als auch deren Frequenz ist mit 200 Punkten oder 5 Prozent / 2 Wochen kaum niedriger als in Krisenzeiten.

Der europäische Aktienmarkt orientiert sich traditionell am US-Markt. Die Korrelation ist trotz divergierender ökonomischer Entwicklungen hoch. Diese Divergenz wird aktuell ausschließlich am Derivatemarkt sichtbar. Das ist keine stabile Situation und ein Vorbote für größere Preisverschiebungen im zweiten Halbjahr 2023. Hieronymus erwartet sinkende Renditen (also steigende Notierungen) an den Rentenmärkten und maximal stabile Preise für Aktien.

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Abbildung 4: Entwcklung des Put-Call Ratio für den S&P 500

Stillhalter profitieren

Im aktuellen Sommerhandel schlagen sich Stillhalterpositionen in der Stillhalter Handelsstrategie bislang gut. Neupositionierungen erlösen allerdings weniger Optionsprämien. Die niedrige Marktvolatilität hat inzwischen auch die Einzelwerte erreicht. Die Wertentwicklung des Stillhalterdepots wurde zuletzt von der Kaptialerhöhung der Lenzing geprägt. Die Systembeschreibung formuliert lakonisch: »Die Volatilität ist systembedingt höher«. Die tiefere Ursache hierfür ist eine kaum vermeidbare Dominanz nicht korrelierter Einzelwerte. Anstatt aktivem Risikomanagement greift das Stillhalterprinzip. Das führt zu stärkeren Preisschwankungen. Näheres in den Notizen zum Stillhalterhandel.

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Abbildung 5: Wertentwicklung aller offenen Optionskontrakte und bereits realisierte Erträge des Stillhalterdepots

Ressourcen

  • Subventionsrausch: Nötig oder Umverteilung nach oben? Interview mit Jörg Hofmann, DGB, Interview DLF 15.7.2023
  • Interview mit Michael Hüther, Institut der deutschen Wirtschaft, zu Entlastungena, DLF 14.8.2023
  • Geldbrief #45: Frischer Wind in Washington, Institut für Makrofinanzen
  • Economist Ausgabe 9233 vom 15.7.2023, mit dem Schwerpunktthema »The global manufacturing delusion«
  • Investors hedge against a European stock market downturn
    Activity in options market indicates nerves over this year’s rally, FT 15.7.2023