Gründerzeit 5.0

Die Zinsstrukturkuve ist nun wieder flach. Es gibt gute Gründe, das für einen Vorboten für einen Crash zu werten. Hohe Zinsen über alle Laufzeiten sind allerdings auch konsistent mit der Frühphase eines Kondratjew-Zyklus.

Wochenbericht 39/23 Stuttgart, 07. Oct. 2023

Als Gründerzeit wird die Wilhelminische Periode im 19. Jahrhundert bezeichnet. Heute erinnern neben den namensgleichen Villen viele Eisenbahntunnel an diese Zeit.

Lange Zyklen

Nikolai Dmitrievich Kondratjew und Joseph A. Schumpeter waren die Wegbereiter der Theorie der langen Innovationszyklen. Danach erfolgt die ökonomische Entwicklung nicht gradlinig, sondern wellenförmig. Kontradjew-Zyklen haben Zeitachsen von 40 bis 60 Jahren, Schumpeter postulierte auch kürzere Innovationszyklen.

Die Quadranten eines Innovationszyklus tragen charakteristische Eigenschaften:

  • Frühphase
    Zinsen sind niedrig, Rahmenbedingungen für Entrepreneure sind exzellent. Unternehmen beuten die Cash-Cows aus den vorangegangenen Zyklen aus und schütten die Erträge an die Kapitalseite aus. Das Wirtschaftswachstum ist schwach; Kapital, auch für riskante Projekte, ist zu günstigen Konditionen verfügbar.
  • Aufschwung
    Erfolgreiche Innovationen erobern die Märkte. Die Wachstumsaussichten steigen, ebenso Löhne und Zinsen. Das Wirtschaftswachstum ist ungleich. Die Inflation steigt. Unternehmenserträge bedienen den Schuldendienst und die Lohnforderungen der Arbeiter.
  • Reifephase
    Es wird immer deutlicher, welche Innovationen sich durchsetzen. Fusionen und Übernahmen (M&A) prägen das Bild. Das Lohnwachstum ist gering, Zinsen und Inflation sinken. Die Kapitalseite profitiert.
  • Abschwung
    Es gibt deutlich mehr Geld als Ideen und Projekte. Marktzinsen sinken, die Wirtschaftsdynamik geht zurück. Unternehmen verbessern ihre Profitabilität primär über Kosteneinsparprogramme. Kapitalisten profitieren.

Die Corona-Epidemie als Katalysator

Setzt man die jüngere Vergangenheit in den Kontext der »Langen Zyklen«, dann begründen die massiven staatlichen Unterstützungen der Jahre 2020 und 21 einen neuen Zyklus. Die Zinsen waren niedrig, jede ökonomische Aktivität wurde maximal gefördert.

Die Früchte dieser Maßnahmen sind inzwischen gereift: neuerdings gibt es Wunderpillen bzw. -Spritzen gegen Fettleibigkeit und andere Zivilisationserkrankungen sowie KI-gesteuerte Sprachmodelle. Im Kontext der »Langen Zyklen« ist der Anstieg der Marktzinsen nur folgerichtig. So erklärt sich auch zwanglos die hohe Nachfrage nach Arbeitskräften und die Bereitschaft der Unternehmen, auf Lohnforderungen einzugehen.

Für Investoren ist die Aufschwungphase risikobehaftet. Die Spekulation blüht, Marktpreise schwanken stark und über allem schwebt permanent die Gefahr eines Crashes. Der Wiener Börsenkrach von 1879 oder der Black-Monday des Jahres 1987 sind Beispiele vom Kapitalmarktverwerfungen in dieser Phase.

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Abbildung 1: Renditeanstiege für US-Treasuries(10 J) 1987 und 2023 im Vergleich

Dieser Chart ist der Kolumne »Points of Return« entnommen. Selbstkritisch bezeichnet der Verfasser das willkürliche Überlagern von Kursverläufen als »Chart Crime«. Die Aussagekraft derartiger Analogien ist tatsächlich begrenzt. Fakt ist aber: Die Aufschwungsphase ist prädestiniert für singuläre Ereignisse. Der Monat Oktober besonders!

Der Bondmarkt-Crash

In der Abb. 1 ist der Renditeanstieg für langlaufende Renten dargestellt. Steigende Renditen entsprechen (stark) sinkenden Marktpreisen. Innerhalb von zwei Jahren haben sich die Marktpreise von Renten-ETF’s, die langlaufende Staatsanleihen halten, mehr als halbiert.

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Abbildung 2: Maximale Divergenz – Preisentwicklung von zwei Rentenfonds und »Asset under Management«

Der Preisverfall hat sich seit dem Jahresbeginn beschleunigt. Gleichzeitig explodiert die Nachfrage. Der Wert der gehaltenen Anleihen (AUM) stieg bis in den Sommer, obwohl die Anleihen selbst kontinuierlich preiswerter wurden. Selbst aktuell ist keine Kapitulation erkennbar. Im Gegenteil:

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Abbildung 3: Maximale Spekulation auf einen Trendbruch beim US-Treasury-ETF

Obwohl man sich seit 18 Monaten permanent eine blutige Nase geholt hat, kaufen Spekulanten enthusiastisch gegen den Trend Call-Optionen. Da Optionen meist eine kurze Laufzeit haben und zudem permanent Zeitwert verlieren, muss der Trend bereits kurz nach der Eröffnung brechen, um die Spekulation mit Gewinn abschließen zu können. Aktuell scheint es keine interessantere Wette zu geben, als die auf einen Kollaps der Rendite für US-Langläufer!

Setzt man die Entwicklung am Rentenmarkt in den Kontext der »Langen Zyklen«, entpuppt sich die kurzfristige Wette mit Optionen als gegen den Trend und strukturelle Marktkräfte gerichtete Spekulation auf einen unmittelbar bevorstehenden Rentenmarktcrash. Falls dies passiert würden Spekulanten und Retailinvestoren frohlocken und Bond-Vigilantes böse bluten. Hand aufs Herz: Wie wahrscheinlich ist das?

Und selbst wenn die Preise plötzlich stark steigen, ist das dann niedrigere Renditeniveau kein Anlass für den Aufbau konservativer Positionen. Im Gegenteil. Falls die Einordnung in den Quadranten der Langen Zyklen korrekt ist, sollte die Nachfrage nach Kapital das Angebot wieder zügig übersteigen. Sollten die Anleihepreise krisenbedingt kurzfristig steigen, wäre das DIE Gelegenheit, ein strategisches, nachhaltiges Eigenkapital-Portfolio aufzubauen. Das setzt möglichen Preissteigerungen bei Anleihen enge Grenzen.

Andererseits notieren Anleihen aktuell auf einem Preisniveau, dass Gläubigern seit dem zweiten Weltkrieg stets sehr interessante Erträge beschert hat. Wer also in Anleihen investiert ist, kann trotz möglicher Buchwertverluste ruhig schlafen.
Dies ist das entscheidende Argument gegen eine destruktive Rentenmarktzäsur, die auf andere Assetklassen ausstrahlt. Die Stücke befinden sich in »starken Händen«, die wegen der aktuell sehr attraktiven Renditen bei weiter steigenden Marktrenditen »die Füße still halten« und das aktuelle Renditeniveau bei steigenden Marktpreisen durch Gewinnmitnahmen stabilisieren.

Einwurf: Die Preise für Anleihen sind so stark gefallen, weil die ominösen »Bond Vigilantes« (letzter Wochenbericht) den Markt dominieren. Im institutionellen Bereich wird der Trend mit einem sog. «Bear Steepener« begleitet. Die Spekulation auf weiter fallende Preise nährt diese Positionierung, was wiederum weitere Preisrückgänge triggert. Der Anleihemarkt ist aktuell wohl das Marktsegment par excellence, dass das Treiben ungebändigter Marktkräfte zeigt. Investoren setzen auf langfristig sinkende Renditen und tolerieren auch größere Buchwertverluste, institutionelle Spekulanten treiben als Bond Vigilantes ihr Unwesen und Spekulanten wetten mit Call-Optionen dagegen. Hieronymus hat mehrfach (rückblickend viel zu früh) auf die attraktiven Renditen hingewiesen. Wenn die Stimmung am Rentenmarkt nicht so aufgeheizt wäre, wäre eine Stillhalterposition im TLT, die auf stabile Preise oder eine Korrektur der aktuellen Übertreigung setzt, ein NoBrainer. Bisher hält die Stillhalterstrategie ihr Pulver noch trocken, wir stehen aber in den Startlöchern.

Stresstest für US-Großbanken

Im Frühjahr gingen drei vermeintlich schlecht geführte US-Regionalbanken nach einem deutlichen Anstieg der Marktzinsen bankrott. Die FED legte daraufhin hastig eine unlimitierte Facilität auf, mit der Banken ihre Buchverluste aus den Anleihebeständen aus der Nullzinsphase decken konnten. Inzwischen sind die Marktzinsen munter weiter gestiegen.

Im Frühjahr fielen die Aktiennotierung auch für US-Großbanken deutlich. Der Aktienpreis der Bank of America ermäßigte sich beispielsweise um fast 30 Prozent. Die Citibank wurde um ein Viertel billiger, Wells Fargo sank um 33 Prozent. Aktuell notieren die US-Banken wieder auf oder gar unterhalb des Preisniveaus aus dem Frühjahr. Die Preise für Kreditausfallversicherungen steigen. Da die Banken ihre Anleiheportfolien ausweisen müssen, kann jedermann die Buchwertverluste bzw. die notwendige Kapitalbindung bei weiteren Renditesprüngen ausrechnen. Der Kapitalbedarf steigt auf dem gegenwärtigen Renditeniveau exponentiell. Möglicherweise ist es das Ziel der modernen »Bond Vigilantes«, eine US-Großbank »zu knacken« und eine Intervention bzw. Kapitulation der FED zu erzwingen.

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Abbildung 4: Preisverlauf der Bank of America – (noch) eine unauffällige Korellation zu den Marktzinsen.

Optimisten rüsten sich für eine Herbstrallye

Die berühmte Formel: »Sell in May» hat bekanntlich den Nachsatz »but remember to come back in September«. Tatsächlich steht der Krisenmonat Oktober unter saisonalen Aspekten unter einem guten Stern. Es beginnt die ertragreichste Marktphase.

Der Chart des Russell 2000 zeigt aktuell – trotz der bedenklichen Entwicklung an der Zinsfront – eine interessante Ausgangslage für eine Herbstrallye.

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Abbildung 5: Preisverlauf des Russell 2000 und (violett) Volatilitätsentwicklung.
  • Das Handelsvolumen steigt im intakten Abwärtstrend.
  • Die Volatilität ist am oberen Ende der aktuellen Tradingrange.
  • Gemessen am Abstand zum gleitenden Durchschnitt ist der Markt überverkauft.

Andererseits hat der Index mit dem Unterschreiten der Notierungen aus dem Frühjahr ein frisches, trendfolgendes Verkaufssignal generiert, dass üblicherweise von einer Verkaufswelle begleitet wird. Die vorsichtige Stabilisierung der letzten drei Handelstage kann auch einfach eine Reaktion auf die vorangegangenen Abgaben sein, eine kleine Marktkorrektur im übergeordneten Trend.

Die Unternehmen im Russell 2000 sind höher verschuldet, als ihre Pendants im S&P 500 und deshalb überproportional von den gestiegenen Marktzinsen betroffen. Woher der im Chartbild erkennbare Optimismus fundamental gespeist wird, ist unklar. Möglicherweise setzen einige auf positive Überraschungen in der nun anlaufenden Berichtssaison.

Fazit

In der Berichtswoche sind die Marktzinsen insbesondere bei längeren Laufzeiten nochmals gestiegen. Die Zinsstrukturkurve hat die Inversion abgebaut. Falls die Zinsen für Anleihen mit langer Laufzeit weiter steigen, entsteht erstmals seit mehreren Jahren eine positive Zinsstrukturkurve. Dies stände im Einklang mit der Hypothese, dass die Ökonomie den »Aufschwung«-Quadranten im Langen Zyklus durchläuft. Diese Phase ist am Kapitalmarkt die schwierigste, da zu wenig Liquidität vorhanden ist, die Bedürfnisse der Kapitalseite zu befriedigen.

Handelssysteme

Im Wochenverlauf unterschritten die Indizes in Europa und Australien die Strikes der aufgebauten Strangles. EuroStoxx-Handelssystem wurde das Risiko deutlich reduziert. Im ASX-Handelssystem wurde der Strangle zur Unterseite erweitert. Das Stillhalter-Handelssystem ist weiterhin extrem defensiv unterwegs und aufgrund der relativen Stabilität des australischen Aktienmarkts inzwischen hauptsächlich mit Premiumwerten aus DownUnder bestückt.